Basel Im Galopp in die Weiten Russlands

Die Oberbadische
Foto: Jürgen Scharf Foto: Die Oberbadische

Wintergäste: Auftakt-Lesung mit Peter Schröder, Doris Wolters und Jörg Schröder in Basel

Basel/Lörrach. „Ist gar nicht so arschkalt heute, lässt sich aushalten“. Wie wahr. Trotz arktischer Winterkälte müssen wir nicht so bibbern wie der Landarzt Garin auf dem Weg in ein entlegenes russisches Dorf, in dem eine Epidemie herrscht.

Der erste „Wintergast“ war jetzt Vladimir Sorokin. Seine Erzählung „Der Schneesturm“ führt anscheinend in die Zeit von Väterchen Russland im 19. Jahrhundert, entpuppt sich aber bei der szenischen Lesung in der Druckereihalle im Basler Ackermannshof als moderne surreale Beschreibung.

Mit diesem Besuch aus dem ewigen Russland fuhren die „Wintergäste“ in vollem Galopp in die diesjährige Saison. Sorokin, Jahrgang 1955, der in der Nähe von Moskau und in Berlin lebt, brachte dieses Buch 2010 heraus. Man fühlt sich an die großen russischen Erzähler wie Tolstoi und Puschkin erinnert. Sorokin sieht sich in dieser Erzähltradition. Wären da nicht zwei, drei Szenen, die grotesk sind.

Doktor Garin heuert den Brotfahrer Kosma an, dessen Schlitten von 50 Minipferdchen gezogen wird, um sein Ziel im fernen Russland zu erreichen. Doch bald verliert sich ihr Weg im Schneegestöber. Nach allerlei Abenteuer, irrwitzigen Begegnungen und seltsamen Unfällen scheint das Ziel weiter denn je. Obwohl der Doktor die Devise ausgibt: „Eisern, standhaft, geradeaus – darin liegt der Sinn des Lebens“.

Aussichtsloser Kampf gegen Naturgewalten

Es ist ein aussichtsloser Kampf gegen die Naturgewalten, vielleicht auch eine Metapher, eine gesellschaftliche Parabel für Russland. Erzählt ist diese Geschichte grandios, vor allem, wenn man sie erzählt bekommt (Dramaturgie: Marion Schmidt-Kumke) wie von den veritablen Schauspielern und Sprechern Jörg Schröder, Peter Schröder und Doris Wolters.

Jörg Schröder ist neu im Team der Wintergäste, und es war wunderbar, wie er den Kutscher Kosma, Spitzname Krächz, darstellt, seine geliebten „Pferdis“ mit sanftem „Hü, Hü!“ antreibt, sie vor dem erzürnten Doktor in Schutz nimmt. Jörg Schröder spielt als Kosma herrlich lakonisch und gemütlich das Phlegma der Landbevölkerung aus. „Man sieht nicht die Bohne“, sagt er über die Schneeverwehungen.

Der Doktor entpuppt sich als „konsumierender Dopaminierer“, was auch immer das sein mag. Dahinter muss eine LSD-artige Wunderdroge stecken, die er in einem Zelt bei Nomaden inhaliert. Berauscht fährt er weiter und nennt den Kutscher jetzt in seinem Drogen-Hochgefühl euphorisch „Bruderherz“.

Irritation Nummer zwei ist die Begegnung mit dem kleinwüchsigen Müller, einem Zwerg so groß wie der Samowar, der sich an einer Gurke festhält, dessen Frau aber umso größer und voluminöser ist: eine skurrile Begegnung mitten in den unendlichen russischen Weiten. Peter Schröder als nervöser Doktor Garin läuft in diesen Szenen zu ganz großer Form auf: reißt die Hände hoch, kann die Finger kaum ruhig halten. Es hält ihn kaum noch auf dem Stuhl, sein Gelächter hallt im Raum wider, er spielt regelrecht Theater.

Doris Wolters hat den Part der Erzählerin, leiht dem Zwerg und seiner Frau und anderen kleinen Rollen ihre wohltönende Stimme. Hämisch kichert sie als kleines Männchen, mimt den betrunkenen und ächzenden Müller.

So stolpern und stapfen sie durch den Schnee, arbeiten sich Schritt für Schritt voran, hocken auf dem Bock, treiben die Zwergpferdchen an und kämpfen gegen die Urgewalt der Elemente, als wären wir nicht bei einer Lesung, sondern auf der Theaterbühne.

Der Zuhörer ist mitten drin im Geschehen

Aber das ist ja das Schöne an einer gelungenen szenischen Lesung wie dieser, dass man sich wie mitten drin im Geschehen fühlt, das Ganze als ein Hörstück erlebt. Man sieht sie förmlich vor sich im Schneetreiben, das da tödlich aufzieht: den Doktor im Bärenfell, Krächz im Schafspelz; man hört, wie die Kufe unter dem Schlitten zerbirst und sieht zu, wie sie notdürftig mit einer Binde umwickelt wird – erlebt es so, als säße man bei dieser imaginären Schlittenfahrt mit Hindernissen selber im Wagen und versinke mit den Vortragenden knietief im Schnee.

Und dann: „Wölfe, auch das noch!“ Die Pferdi verfallen in Schreckstarre, müssen sich erst Stunden lang vom Schreck erholen. Die Wölfe sind längst weg, nur die Furcht ist noch da. Dass am Schluss der so liebenswürdige Krächz in seinem „Mobil“ erfriert, obwohl seine Pferdchen ihn wärmen, ist traurig, zumal zwei Chinesen den Doktor aus seinem Ungemach retten. Dieser Schluss täte noch mehr weh, wenn man nicht wüsste, dass Sorokin mit seinem surrealen Schreiben dem Leser den sicheren Boden entzogen hat.

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