Von Sandra Trauner Basel. Die 1990 geborene Aargauerin Michelle Steinbeck hat ein Buch geschrieben, das seine Leser durchschüttelt, als hätten sie halluzinogene Pillen eingeworfen. „Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch“ schaffte es immerhin auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. Michelle Steinbeck, Mitte 20, ist eine der Überraschungen dieses Jahres. „Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch“ heißt ihr erster Roman, der im Basler Lenos-Verlag erschienen ist – und er ist genauso unkonventionell, verblüffend, irritierend und spleenig, wie der kapriziöse Titel nahelegt. Es ist ein Buch über einen abwesenden Vater. Ein Buch über die Schwierigkeit, sich als junger Mensch für das eine oder das andere Leben zu entscheiden. Ein Buch über die Frage, ob man Kinder haben soll. Auf der realen Ebene geht es in Steinbecks Roman um solche Themen – aber die reale Ebene existiert so gut wie nicht, man erschließt sie sich durch Interpretation. Die Geschichte, die der Roman erzählt, geht anders: Eine junge Frau wirft ein Bügeleisen, das ihr glühend auf die Brust drückt, aus dem Fenster und erschlägt damit aus Versehen ein streunendes Kind. Sie packt das Kind, das später in manchen Szenen wieder lebt, in einen Koffer. Eine Wahrsagerin mit einem Krokodilhund rät ihr, Koffer und Kind zu ihrem Vater zu bringen: „Deine Ängste und Zögerlichkeiten, es sind nicht deine... Es sind die Deines Vaters“. Der Vater, erfährt der Leser, hatte Angst vor Kindern, er verließ die Familie und widmete sich dem Nachdenken, dem Schreiben und dem Tee-Trinken. Seine Tochter Loribeth sucht und findet ihn am Ende auch – auf „der Insel der geflohenen Väter“. Hier stellt sie ihn zur Rede, während der Text plötzlich vom Surrealen zurück ins Reale kippt. Dass der Vater am Ende dann wieder ein Walfisch ist, in dessen Bauch eine Schreibmaschine steht, tut fast schon gut nach so viel Realismus. Mutiges Buch Auf ihrer Reise begegnet sie Gestalt gewordenen Urängsten (drei mannshohen Doggen, die dem Kind ein Ohr abbeißen). Sie gerät in ein Fest, auf dem es Fisch-Kuchen gibt, bis am Ende ein Haus in die Luft fliegt. Sie irrt durch die Horrorvision einer Großstadt – Szenen wie ein Text gewordenes Gemälde vom Höllen-Breughel. Sie durchwandert Meere, Berge, Wüsten auf der Suche nach dem Vater, sich selbst und einer Zukunft. Zwei Männer kreuzen ihren Weg, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Einer hasst und einer liebt Kinder. Der eine steigt wie eine männliche Venus vor ihren Augen aus dem Meer und lebt mit ihr in einer Künstlerkommune in einem Stelzenhaus. Der andere lockt sie von dort weg in ein Von-der-Stange-Häuschen, wo er kocht und putzt und renoviert, was Loribeth – neben dem horriblen Spannteppich auf dem Boden – zur Weißglut treibt. Das ganze Buch ist voller absonderlicher Gestalten, irrwitziger Begegnungen, absurder Szenen, surrealer Visionen. Dazwischen legt Steinbeck immer wieder Realitäts-Anker aus, damit der Leser sie hineinwerfen kann in dieses sprudelnde, glühende Bilderwelt. „Was ist denn Glück"“, fragt sie im Walfischbauch, „Glück ist ohne Spannung. Im Glück ausharren ist feige. Das hat keine Größe.“ Hat dieses Buch Größe" Das ist Geschmackssache, wie etwa die hitzige Diskussion über Steinbecks Debüt im SRF-Literaturclub zeigte. Sicher aber hat der Roman viel Mut. n  Michelle Steinbeck: „Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch“, Lenos-Verlag Basel, 153 Seiten, 22,90 Franken