Besuch in Kiew Uniformierte Männer, weinende Frauen

Armin Friedl
Trauer, Trost und Protest auf dem Kiewer Maidan-Platz. Foto: dpa

Für ein internationales Übersetzer-Projekt hat sich Stefanie Stegmann, Leiterin des Stuttgarter Literaturhauses, in Kiew, der Hauptstadt der Ukraine aufgehalten. Jetzt berichtet sie über ihre Eindrücke von dort.

Stuttgart - „Es hat mich erstaunt, wie viele Menschen auf dem Kiewer Maidan, dem zentralen Platz der Unabhängigkeit, auch weiterhin noch leben“, so Stefanie Stegmann, neue Leiterin des Stuttgarter Literaturhauses. „Die Zelte und die Barrikaden stehen dort nach wie vor.“

Leute wie sie sind derzeit gefragt. Seit Wochen ist die politisch-gesellschaftliche Entwicklung in der Ukraine das Top-Thema nicht nur in den Medien. Doch selbst Experten tun sich schwer in der Analyse und im Bewerten der möglichen Konsequenzen. Da ist es wohltuend, mit jemandem wie Stegmann zu sprechen, die einen frischen, unverbrauchten und aktuellen Blick auf die Vorgänge in Kiew hat und die auch den Alltag der Menschen dort etwas beleuchten kann.

„Am meisten hat mich dort die gegenwärtige Gleichzeitigkeit irritiert“, so Stegmann. „Die Menschen dort gehen ihrem Alltag nach, sie gehen einkaufen, telefonieren und spazieren, was ja auch gut ist. Und zugleich gibt es eine hohe Präsenz von uniformierten Männern in Tarnkleidung. Und es gibt Frauen, die einfach auf der Straße stehen bleiben und über ihre Söhne und Männer weinen, die vor ein paar Wochen von den Scharfschützen erschossen wurden.“

„Kiew ist eine europäische Stadt"

Kiew mag für viele weit weg sein, doch Stegmann hält dagegen: „Kiew ist eine europäische Stadt. Man stelle sich nur mal vor, man läuft durch Berlin mit dem Wissen, dass hier in den vergangenen Wochen Dutzende Menschen durch Scharfschützen getötet wurden. Das ist bizarr. Es gibt ein Nebeneinander von Menschen, die verstohlen über die Straßen laufen und weinen, zwei Schritte weiter tanzt eine Breakdance-Gruppe, kurz darauf sehe ich einen Yoga-Kurs auf der Straße inmitten all der anderen, die ihrem Alltag nachgehen. Das führt zu einer sehr irritierenden Gemengelage, zu einem umfassenden Unwohlsein. Und das geht mir nahe.“

Das Besondere während Stegmanns Aufenthalt: In Kiew hat die größte Buchmesse der Ukraine stattgefunden, ein fünftägiges Festival für Kunst und Literatur. Absagen von Verlagen und lesenden Autoren habe es keine gegeben. Auffallend war, dass sich vor allem die jüngere Generation für die Buchmesse interessiert. „Die Lesungen waren häufig ausverkauft“, so Stegmann. Ein Autor wie Serhij Zhadan, der am 23. April ins Stuttgarter Literaturhaus kommt, lese häufig vor mehreren Hundert Besuchern.

Das Aufeinander-Zugehen fällt schwer

Stegmann kennt die Ukraine noch aus anderen Zeiten: Von 2003 bis 2006 war sie Lektorin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes an der Universität Czernowitz, war damit auch häufig in der Hauptstadt. Wie viele empfiehlt sie für die nahe Zukunft umfassende Deeskalationsmaßnahmen, fügt aber hinzu: „Das Aufeinander-Zugehen fällt schwer. Die Verkrustungen und Abgrenzungen sind durch die ukrainisch-russische Geschichte historisch bedingt ein Stück weit zu erklären. Vielen, die sich seit der Unabhängigkeit des Landes 1991 deutlich von Russland distanzieren, fällt es schwer, die nötige Offenheit und Toleranz aufzubringen – umgekehrt genauso. Aber es geht nicht anders. Die Ukraine ist ein sehr heterogenes Land, es müssen Konzepte entwickelt werden, die verschiedene Interessen, historische und kulturelle Einflüsse berücksichtigen und Identifikationen möglich machen.“

Welche Gruppen aus welchen Motiven konkret den Anschluss an Russland suchen, kann Stegmann nicht klar herausfiltern. Aufschlüsse und Perspektiven verspricht sie sich von ihrer neuen Reihe „Rebellen“ im Literaturhaus, zu der in Zusammenarbeit mit der Robert-Bosch-Stiftung Autoren aus der Ukraine eingeladen sind. Hier handelt es sich um engagierte Intellektuelle, so Stegmann, die sich jenseits von Nationalismus erst einmal für mehr Demokratie und weniger Korruption einsetzen.

Etikettierungen sind zu kurz gegriffen

„Sie haben die Proteste mit begleitet, kennen die Gemengelage der Menschen, die auf dem Maidan waren, und empfinden die Etikettierung als Nationalisten oder Faschisten als zu kurz gegriffen. Häufig wird leider übersehen, dass jenseits der politisch problematischen Gruppen ein großer Teil der Menschen aus einem Unrechtsbewusstsein auf die Straße gegangen ist“, so Stegmann.

Der konkrete Anlass für Stegmanns Reise nach Kiew war die Tagung „TransStar“, ein internationales Projekt für Literatur-übersetzer, an dem das Literaturhaus Stuttgart beteiligt ist. Stegmann: „Wir schulen drei Jahre lang literarische Nachwuchsübersetzer per Vergabe von Stipendien. Am Ende dokumentieren wir dies in Publikationen und Veranstaltungen.“ Im Mittelpunkt steht die literarische Übersetzung als kreative, interpretierende und künstlerische Tätigkeit.

„Um Europa und seine Kulturen zu verstehen, benötigen wir ein gegenseitiges Verständnis voneinander, und da ist die Literatur sehr wichtig. Insbesondere in Mittel-Ost-Europa ist literarisch in den letzten 20 Jahren sehr viel passiert. Manche Autoren sind in Deutschland schon bekannt, aber hier gibt es noch viel zu entdecken. Diesen Bereich wollen wir professionalisieren. Die beteiligten Länder sind die Ukraine, Polen, Tschechien, Slowenien und Kroatien.“

Umfrage

Bargeld

Die FDP fordert Änderungen beim Bürgergeld. Unter anderem verlangt sie schärfere Sanktionen. Was halten Sie davon?

Ergebnis anzeigen
loading