Von Walter Bronner Binzen. Am Montag, 22. Dezember, sind 75 Jahre vergangen seit jenem schrecklichen Eisenbahnunglück zwischen Kluftern und Markdorf am Bodensee, das 101 Menschenleben forderte. Von den Todesopfern waren 98 evakuierte Markgräfler, die aus dem Allgäu in ihre Heimatgemeinden zurückkehren und mit ihren Angehörigen fröhliche Weihnacht feiern wollten. Unter den Toten befanden sich allein aus Binzen 42 Frauen, Männer und Kinder. Dabei löschte die Katastrophe eine ganze Familie mit Mutter, Vater und vier Kindern aus; vier Familien verloren die Mutter mit allen Kindern. Wie es zu diesem tragischen Unglück kommen konnte, ist ausführlich überliefert und hängt ursächlich mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zusammen. Denn als Antwort auf den deutschen Einmarsch in Polen am 1. September 1939 erklärten England und Frankreich dem Nazireich den Krieg. Damit wurde der Rheingau und somit auch das Markgräflerland zum Frontgebiet, dessen Bombardierung zu befürchten war. Anfang September 1939 wurden deshalb in den gefährdeten Orten ältere Leute und Familien mit Kindern evakuiert und über etliche Zwischenquartiere am Hochrhein schließlich im Allgäu untergebracht. Da es jedoch am Oberrhein während des Polen-Feldzugs ruhig blieb, drängten die Evakuierten auf ihre Rückkehr in die Heimat, um mit ihren zurückgebliebenen Angehörigen das Weihnachtsfest feiern zu können. Die Rückführung erfolgte ab Mitte Dezember. Einer der letzten Sonderzüge verließ das Allgäu mit Zielbahnhof Müllheim am späten Abend des 22. Dezember 1939. Mit Omnibussen kamen die Leute aus dem tief verschneiten Kleinen Walsertal, aus Hirschegg, Riezlern und Mittelberg zur Bahnstation Oberstorf. Auf der eingleisigen Bahn entlang des Bodenseeufers sollten sich der planmäßige Kohlenzug in Richtung Lindau und der Rückkehrer-Sonderzug in Markdorf um 22.20 Uhr kreuzen. Menschliches Versagen und eine Reihe unglücklicher Umstände im Dienstbetrieb der beiden Bahnhöfe Kluftern und Markdorf führten schließlich zu dem grauenhaften Zusammenstoß der beiden Züge auf freier Strecke. Der Fahrdienstleiter in Markdorf gab dem aus Richtung Bermatingen täglich verkehrenden Kohlenzug freie Fahrt, ohne ihn vorher in Kluftern anzumelden. Obwohl ihm die Kreuzung der beiden Züge in Markdorf bekannt war, hatte er dies im entscheidenden Moment vergessen. In Kluftern gab der zuständige Weichenwärter zu Protokoll: „Nach Abläuten des Sonderzuges in Fischbach habe ich die Signale auf freie Fahrt gestellt. Ich versuchte, den Zug in Markdorf anzubieten, was mir aber weder am Läutewerk des Telegraphen noch am Telefon gelang. In dem Moment, als der Sonderzug den Bahnhof Kluftern passierte, habe ich das Abläutesignal gegeben. Dies wurde auch in Markdorf gehört und im selben Moment wurde ich gebeten, den Sonderzug zu stellen.“ Doch da war es schon zu spät. Der Kohlenzug hatte Markdorf passiert. Laute Rufe eines Bahnbeamten, der den Zug noch zu stoppen versuchte, wurden nicht mehr gehört. Das Schlusslicht des Zuges verschwand im Nebel und das Unglück nahm seinen Lauf. Um 22.19 Uhr prallten die beiden Züge mit jeweils etwa 60 Stundenkilometern frontal aufeinander. u  Von dem darauf folgenden traurigsten Weihnachtsfest, das Binzen je erlebt hat, berichten wir noch.