Stuttgart - Herr Bauer, muss Sie jemand kneifen, damit Sie realisieren, dass diese WM nicht ein schöner Traum ist?
Nein, kneifen muss mich keiner. Mir war bewusst, was die Mannschaft kann.
Aber dass sie mit 9:1 Punkten ungeschlagen ins Achtelfinale einzieht . . .
. . . habe natürlich auch ich nicht erwartet. Wenn mir das jemand prognostiziert hätte, hätte ich gefragt: „Wann warst du das letzte Mal beim Arzt?“ Die Art und Weise, wie sich die Mannschaft bisher präsentiert hat, ist unglaublich. Davor verneige ich mich tief.
Was imponiert Ihnen besonders?
Dass wir gute Torhüter haben und dass die Abwehr kompakt steht, damit habe ich gerechnet. Aber diese Spielfreude, diese Kreativität im Angriff, hat mich überrascht.
Liegt das alles nur am neuen Trainer?
Dagur Sigurdsson ist ein Glücksgriff. Er hat gemeinsam mit seinem Trainerteam einen riesigen Anteil an der Entwicklung.
Das klingt nach Abstrafung für seinen Vorgänger Martin Heuberger.
Nein, es sind zwei unterschiedliche Personen. Auch Martin hatte seine Qualitäten, doch Dagurs großer Vorteil ist seine Erfahrung in der Bundesliga.
Was zeichnet ihn konkret aus?
Er behält auch in kritischen Situationen stets einen kühlen Kopf. Das zeigt sich auch bei den Ein- und Auswechslungen. Er ist kein Mann vieler Worte, aber er benutzt immer die richtigen. Und ganz wichtig ist: Er hatte von Beginn an einen klaren Plan, wohin er mit der Nationalmannschaft möchte. Das Fernziel heißt Olympia-Gold 2020. Darauf arbeitet er Minute für Minute akribisch hin.
Und jetzt wird er schon fünf Jahre früher Weltmeister?
Wir sind klug beraten, immer nur den nächsten Stein, der auf dem Weg liegt, beiseitezuräumen, sonst gerät man ins Stolpern. Wir sind froh, wieder näher an die besten Teams der Welt herangerückt zu sein, aber wir bleiben bescheiden.
Sie glauben also nicht an eine Parallele zur Fußball-EM 1992?
(Lacht) Ich weiß, auf was Sie anspielen.
Dänemark holte als Nachrücker für das damalige Jugoslawien völlig überraschend den Titel.
Ein schönes Beispiel. Nur die Geschichte wiederholt sich nicht immer.
Hätte es nicht ein „Gschmäckle“, wenn ein Land, das unter seltsamen Umständen eine Wildcard zugeschanzt bekam, Weltmeister wird?
Nein, wenn ein Nachrücker eine WM gewinnt, hat sich dieser im Vergleich mit allen Teams als der Beste erwiesen – und hat den Titel dann auch verdient.
Durch die geringe Erwartungshaltung konnte die Mannschaft befreit aufspielen. Wird sie mit dem Druck in den K.-o.-Spielen klarkommen?
Sie wird mit dem Druck klarkommen, da bin ich sicher. Druck war doch von Beginn an da. Jeder wusste, wie wichtig etwa das Eröffnungsspiel gegen Polen wird. Die Mannschaft will jedes Spiel gewinnen. Und jeder, der gewinnen will, hat Druck.
Wie schätzen Sie den Achtelfinal-Gegner ein?
Ägypten ist ein starker, aggressiver Gegner. Wir werden gegen enthusiastische Zuschauer spielen – das wird uns alles abverlangen.
In der Vorrunde herrschte in den Hallen häufig gähnende Leere.
Man muss differenzieren. Wenn Katar, Tunesien oder Ägypten spielten, war es recht voll.
Was heißt recht voll?
Zwischen 5000 und 9000 Zuschauer waren da. Überhaupt finde ich die Vergleiche nicht immer gerecht. Wenn ich an die WM 2013 in Spanien denke, waren in der Vorrunde oft viel, viel weniger Zuschauer da als jetzt in Katar. Und Spanien hat 50 Millionen Einwohner, Katar nur zwei Millionen.
Sehen Sie die immer zahlreicheren Großveranstaltungen in Katar nicht auch kritisch?
Die Unterbringungsmöglichkeiten und die Arenen sind perfekt, einfach fantastisch. Die Organisation, die klimatischen Bedingungen sind auch gut.
Die Fußball-WM 2022 könnte im Sommer stattfinden.
Dann hat es statt wie jetzt angenehme 25 Grad Celsius 50 Grad. Das sind natürlich andere Bedingungen.
Zurück zum Handball. Nach dem Triumph bei der Weltmeisterschaft 2007 traten 22 500 Menschen in Deutschland Handballvereinen bei. Hoffen Sie nun auf einen ähnlichen Schub?
Ich glaube schon, dass unsere junge Mannschaft für Begeisterung sorgen wird. Nach den vielen Tiefschlägen in den letzten Monaten hat sie Selbstvertrauen getankt und bereits jetzt viele Sympathien gesammelt.
Leider bekommen die Spiele nur wenige mit.
Es tut auch mir weh, dass die Spiele im frei empfangbaren Fernsehen nicht zu sehen sind. Ich glaube aber, dass sich gerade die jungen Menschen über die Zeitungen und die sozialen Medien gut informieren können.
Ein schwacher Trost. Können Sie denn garantieren, dass die Europameisterschaft im kommenden Jahr in Polen wieder jeder sehen kann?
Da erwarte ich eine andere Situation, zumal die Rechte dann ja beim Europäischen Handballverband liegen und nicht beim Weltverband.
Herr Bauer, vervollständigen Sie bitte den Satz: Wenn die deutsche Mannschaft das Achtelfinale mit einem Tor Unterschied verliert . . .
. . . dann haben wir trotzdem ein gutes Turnier gespielt, unverzichtbare Erfahrungen gesammelt und einen Schritt nach vorne gemacht. Ich habe immer gesagt, es kommt auch darauf an, wie wir uns präsentieren. Aber ich bin mir sicher: Die Mannschaft wird jede Situation meistern.