Wer sich „Unschuld“, so der leicht schiefe deutsche Titel, zur Brust nimmt, findet keine Familiengeschichte wie in den dickleibigen Romanen „Schweres Beben“ (1992), „Die Korrekturen“ oder „Freiheit“ (2010) vor, sondern ein Mosaik rast- und ruheloser Außenseiter, die sich allesamt schuldig machen – und sogar, wie Andreas in der DDR, einen Mord verüben. Mit einem Spaten hat er Horst, den aufdringlichen Stiefvater seiner angebeteten Annagret, in der Datscha der privilegierten Eltern aus dem Weg geräumt.
Von Kalifornien nach Bolivien und in die DDR
Die Geschichte von Pip und Andreas ist nicht chronologisch erzählt und bezieht ihre subtile Spannung aus dem Wissen, das der Leser den Figuren voraus hat. Sie führt in die kalifornische Bay Area, nach Ostberlin und in den bolivianischen Urwald. Im fünften, „{le1o9n8a0rd}“ überschriebenen Kapitel nimmt das Spannungskarussell Fahrt auf: Hier gewinnt der Amerikaner Tom Aberant Farbe, Chefredakteur des „Denver Independent“, der als einziger Mensch von Andreas’ kaltblütigem Mord weiß – und über zwei Ecken mit Pip zu tun hat.
Franzen erweist sich erneut als stilistischer Meister, der ebenso gekonnt die Erzählfäden spinnt, wie er jede Form der Kommunikation treffend aufschreiben kann – ganz gleich, ob es ein Dialog auf der Straße ist, ein Telefonat, eine E-Mail oder eine SMS. Und er hat keine Scheu, sexuelle Obsessionen, Traumata und Praktiken (obsessive Onanie inbegriffen) detailliert zu beschreiben. Oder die DDR, die „Republik des schlechten Geschmacks“, auf den Punkt zu bringen: „Wie ein besonders ernsthafter Junge versuchte sie, ihren sowjetischen Vater zu beeindrucken und zu übertreffen.“