Jonathan Franzen Auf 800 Seiten um die Welt

Reinhard Helling
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Seit fast eineinhalb Jahrzehnten behauptet der US-Autor Jonathan Franzen die Oberhoheit über das Genre des Gesellschaftsromans. Jetzt hat er wieder einen geschrieben, und auch „Unschuld“ ist ebenso lang wie gut geworden.

Stuttgart - Vor 14 Jahren mit dem Roman „Die Korrekturen“ als behornbrillter, etwas linkisch wirkender Shooting Star gestartet, hat sich Jonathan Franzen, inzwischen 56 Jahre alt, grauhaarig und geschieden, kontinuierlich ins Zentrum der amerikanischen Literatur geschrieben, das bis 2009 John Updike ausfüllte. Diese Karriere begünstigt hat der Umstand, dass alte Wortführer sterben (zuletzt James Salter und E. L. Doctorow), verstummen (Philip Roth), sich rar machen (Don DeLillo) und dass viele Gleichaltrige und Jüngere – Dave Eggers („Der Circle“) ausgenommen – mehr und mehr verblassen.

Inzwischen ist der mit dem National Book Award ausgezeichnete Franzen dem Mittleren Westen entwachsen, wo seine ersten vier Romane spielten, und hat sich aufgemacht zu Schauplätzen, die er aus eigener Anschauung kennt – darunter Deutschland, wo er Anfang der achtziger Jahre Germanistik studierte (in München und Berlin), aber auch an die amerikanische Westküste bei Santa Cruz, wo er die Hälfte des Jahres mit seiner Lebensgefährtin, der Autorin Kathryn Chetkovich, lebt.

Wieder fast ein Kilo schwer, wieder mehr als 800 Seiten

Machart und Umfang von Franzen-Roman Nummer fünf sind so, wie wir es seit seinem zunächst wenig beachteten Debüt „Die 27ste Stadt“ (1988) kennen: dick und gewichtig. Wieder knapp ein Kilo schwer, mehr als 800 Seiten umfassend, und gleich zwei Übersetzer mussten tätig werden, um „Purity“, so der Titel der an diesem Dienstag erschienenen, 563-seitigen US-Ausgabe, schnellstmöglich deutschen Lesern zur Verfügung zu stellen, was tatsächlich schon an diesem Freitag der Fall sein wird.

Der US-Titel spielt auf die 23-jährige Purity Tyler an, die sich selbst Pip nennt, eine ohne elektronische Medien aufgewachsene rebellische Frau, die 130 000 Dollar Studienschulden hat, ihren Vater nicht kennt, weil ihre Mutter Penelope, ehemals Anabel und millionenschwer, heute eine Veganerin, die in einer Hütte im kalifornischen Felton bei San José haust, ihn vor ihr geheim hält.

Ein Mosaik rast- und ruheloser Außenseiter

Um die Schulden loszuwerden (und um zugleich der Anhänglichkeit der spinnerten Mutter zu entkommen), gibt Pip ihren Job im Call-Center der obskuren Firma Renewable Solutions auf, steigt aus ihrer WG in Oakland aus und reist nach Bolivien, wo sie ein Praktikum bei dem charismatischen Internet-Outlaw Andreas Wolf macht, einem 1960 geborenen DDR-Bürger, der sein sektenartig aufgezogenes Sunlight Project als Gegenmodell zu Julian Assanges Wikileaks aufgezogen hat. Wolf, ein (erfundener) Neffe des (echten) Spionage-Chefs Markus Wolf, verspricht ihr ein Gehalt und stellt in Aussicht, ihren Vater mittels seiner Internet-Experten ausfindig zu machen.

Wer sich „Unschuld“, so der leicht schiefe deutsche Titel, zur Brust nimmt, findet keine Familiengeschichte wie in den dickleibigen Romanen „Schweres Beben“ (1992), „Die Korrekturen“ oder „Freiheit“ (2010) vor, sondern ein Mosaik rast- und ruheloser Außenseiter, die sich allesamt schuldig machen – und sogar, wie Andreas in der DDR, einen Mord verüben. Mit einem Spaten hat er Horst, den aufdringlichen Stiefvater seiner angebeteten Annagret, in der Datscha der privilegierten Eltern aus dem Weg geräumt.

Von Kalifornien nach Bolivien und in die DDR

Die Geschichte von Pip und Andreas ist nicht chronologisch erzählt und bezieht ihre subtile Spannung aus dem Wissen, das der Leser den Figuren voraus hat. Sie führt in die kalifornische Bay Area, nach Ostberlin und in den bolivianischen Urwald. Im fünften, „{le1o9n8a0rd}“ überschriebenen Kapitel nimmt das Spannungskarussell Fahrt auf: Hier gewinnt der Amerikaner Tom Aberant Farbe, Chefredakteur des „Denver Independent“, der als einziger Mensch von Andreas’ kaltblütigem Mord weiß – und über zwei Ecken mit Pip zu tun hat.

Franzen erweist sich erneut als stilistischer Meister, der ebenso gekonnt die Erzählfäden spinnt, wie er jede Form der Kommunikation treffend aufschreiben kann – ganz gleich, ob es ein Dialog auf der Straße ist, ein Telefonat, eine E-Mail oder eine SMS. Und er hat keine Scheu, sexuelle Obsessionen, Traumata und Praktiken (obsessive Onanie inbegriffen) detailliert zu beschreiben. Oder die DDR, die „Republik des schlechten Geschmacks“, auf den Punkt zu bringen: „Wie ein besonders ernsthafter Junge versuchte sie, ihren sowjetischen Vater zu beeindrucken und zu übertreffen.“

Der Roman streift alle zurzeit relevanten Themen

Der Roman ist ganz in unserer Zeit und Lebenswelt verankert und streift – was manche US-Kritiker Franzen verübeln – alle derzeit relevanten Themen, von Finanz- und Energieversorgungsfragen über Bevölkerungs- und Beschäftigungsentwicklung bis hin zu den negativen Nebenwirkungen der sozialen Netzwerke und dem Enthüllungsjournalismus. Ganz unverhüllt kritisiert Franzen das Internet, das er im Interview mit der „F. A.Z.“ als „das größte Instrument zur Förderung des Narzissmus“ bezeichnete.

Insbesondere bei der Gestaltung des ostdeutschen Dissidenten Wolf kommt Franzen zugute, dass er mit der deutschen Sprache vertraut ist, die er so „wunderbar baukastenartig“ findet. Deshalb schreibt er zwischendurch auch mal einen buchlangen Essay wie „Das Kraus-Projekt“ (Rowohlt, 2014), in dem er sich mit dem „Fackel“-Mann und Sprachdozenten Karl Kraus (1874–1936) auseinandersetzt.

Im Anschluss an eine Lesereise durch Deutschland, die Franzen im Oktober nach Hamburg (8.), Göttingen (9.) und Berlin (10.), leider aber nicht nach Stuttgart führt, erhält der begeisterte Vogelbeobachter, dessen Essay „Die Klima-Klemme“ als E-Book erscheinen ist, am 14. Oktober auf der Insel Mainau für sein Engagement im Naturschutz den diesjährigen Euro-Natur-Preis.

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