Es war fast ein kleines Familientreffen: Ihr Vater und ihr Bruder waren extra aus Müllheim an der Ruhr zur Lesung nach Lörrach gereist, wo Naomi Schenck ihr Buch „Mein Großvater stand vor dem Fenster und trank Tee Nr. 12“ auf Einladung des Dreiländermuseums im Hebelsaal vorstellte. Von Jürgen Scharf Lörrach. Die Familienbiografie wurde seit Erscheinen auf dem Buchmarkt im Frühjahr in allen großen Feuilletons gut besprochen, aber in Lörrach ist sie noch nicht im Bewusstsein der Leser angekommen. Das wollte Museumsleiters Markus Moehring ändern. Naomi Schenck stieg am Freitagabend nicht wie üblich mit dem ersten Kapitel ein, sondern ging gleich auf die Lörracher Episoden ein und reichte später das Anfangskapitel nach. Seit Monaten, so die Autorin, die Szenenbildnerin bei Film- und Fernsehproduktionen ist und auch Hörspiele verfasst, habe sie sich auf diese Lesung gefreut. Die Stadt habe ihr seit Kindheit etwas bedeutet und der Großvater ihr viel von Lörrach erzählt. Er lebte von 1917 bis 1925 als Kind und Jugendlicher im Haus Sonne am Alten Markt, dort, wo heute über einer Buchhandlung der Fachbereich Kultur und Tourismus seine Arbeitsräume hat. Von ihrem Opa Günther bekam Naomi, die älteste Enkelin, das Recht für eine Biografie übertragen, die auf Erinnerungen, Anekdoten und Material basiert, das ihre Großmutter in den 70er Jahren auf alten Kassetten besprochen hat. Obwohl die Liebe zu ihrem Großvater in allen Sätzen durchscheint, idealisiert die Enkelin ihn nicht. Was seine überraschende nationalsozialistische Vergangenheit betrifft, sieht sie ihn durchaus kritisch. Bei ihren Recherchen hat sie herausgefunden, dass Opa Günther nicht nur in der NSDAP, sondern auch Mitglied der SA war. Wie passt das zusammen: ein so „origineller Freidenker“ wie der leidenschaftliche Wissenschaftler Günther Schenck, ein führender Chemiker seiner Zeit, und die Braunhemden und primitiven Schlägertruppen" Hatte der Großvater Seiten, die die Enkelin nicht kannte" Da wollte sie doch ein Buch über einen „wunderbaren Menschen“ schreiben, aber die Vermutungen waren erdrückend. Man merkte bald: Es ist eine große Auseinandersetzung mit der eigenen Familie, eine Chronik, um die Familienmitglieder besser kennenzulernen. Und so schlug die Enkelin den Bogen von Beginn an, als die Familie nach Lörrach kommt, bis zu dem Tag, an dem sie die Stadt wieder verlässt. Selbstredend gibt es speziell im Lörracher Kapitel viel Zeit- und Lokalkolorit mit Geschichten aus der Nachkriegszeit. Als sich die Geschäfte wieder füllen und im Schaufenster der Konditorei Pape, „der teuersten Konditorei von Lörrach“, echter Baumkuchen steht. Als die Schienen der Straßenbahn bis zur Wirtschaft zur Sonne gelegt werden. Als Anfang der 20er Jahre die Wirtschaftslage immer schlimmer wird und in Lörrach der Preis für ein Graubrot auf 270 Millionen Mark steigt. Als es zu Arbeiterunruhen in den Straßen kommt. Das „Günther-Projekt“ der Ich-Erzählerin Naomi Schenck ist also ein spannender Familienbilderbogen. Und etwas von Familiendynamik wurde an dem Abend auch vorgeführt, als sich Naomis Vater Günter (ohne h) in die Diskussion mit viele Bezügen und Querverweisen zu Lörrach einschaltete. In seinem Elternhaus, so erzählte er, hingen Bilder von Hermann Daur, und er selber habe in seiner Jugend Hebel verschlungen. Zur großen Überraschung der Autorin wurde das Bildnis auf dem Buchumschlag, erkennbar am jugendstilhaften Signet, als ein Werk von Adolf Glattacker identifiziert. So schloss sich der Kreis.