Lörrach „Ich fühle mich als Deutscher“

Die Oberbadische

Tag der Russlanddeutschen – Interview mit Vassili Kraus / Wanderausstellung im Oktober in Lörrach

In den 90er Jahren kehrten viele sogenannte Spätaussiedler aus der einstigen Sowjetunion nach Deutschland  zurück. Einige haben in Lörrach eine neue Heimat gefunden und sind bestens integriert. Anlässlich des Tages der Russlanddeutschen hat sich Alexander Anlicker mit Vassili Kraus über die Geschichte der Russlanddeutschen und deren Identitätsfindung unterhalten.

Herr Kraus, fühlen Sie sich als Deutscher, Russe, Russlanddeutscher oder Deutschrusse?

Ich fühle mich seit meiner Geburt als Deutscher. Meine Muttersprache ist  deutsch. In meiner Familie und dem Dorf, wo ich aufgewachsen bin, wurde nur Wolgadeutsch gesprochen. Die Russlanddeutschen haben immer ihre deutsche Kultur beibehalten. Wenn man will, kann man auch sagen, die Integration hat nicht stattgefunden, die Deutschen haben immer unter sich gelebt.

In den russischen Pässen gibt es auch eine Besonderheit. Neben der Staatsangehörigkeit russisch wird auch die Nationalität, wie beispielsweise deutsch  eingetragen.

Heute würde ich mich als Deutscher und Europäer bezeichnen.

Was wissen Sie über ihre Familiengeschichte?

Leider nur sehr wenig. Mein Großvater wurde erschossen, als mein Vater noch ein Junge war. Es gab niemanden, den ich fragen konnte. Wir wissen nur, dass wir Wolgadeutsche sind und unsere Vorfahren 1763 mit der ersten Welle nach Russland ausgewandert sind.  Dort gab es Orte mit deutschen Namen wie Basel, Schaffhausen oder Mannheim. Der Ort, wo  meine Vorfahren herkamen, hieß Dönhoff. Ende des 19. Jahrhunderts sind sie freiwillig nach Sibirien gezogen, nachdem eine Agrarreform in Russland Anreize dafür geschaffen hat.

Die Eltern meiner Frau waren ebenfalls Russlanddeutsche. 1941 waren sie frisch verheiratet und wurden nach Sibirien zwangsdeportiert. Das war ein schwarzer Tag für die Wolgadeutschen.

Wie wird in Russland mit den Russlanddeutschen umgegangen?

n der Sowjetunion waren Russlanddeutsche ein Tabuthema. Auch heute noch tut sich Russland mit der Aufarbeitung der Geschichte schwer. Daher bin ich froh, das am Tag der Russlanddeutschen daran erinnert wird.

Warum haben sie sich entschieden nach Deutschland zurückzukehren?

Es gab mehrere Gründe. Zum einen habe ich mich immer als Deutscher gefühlt, zum anderen war es die wirtschaftliche Situation nach dem Verfall Russlands. Damals sind nationale Gefühle bei allen Bevölkerungsgruppen hochgekommen. Zuerst gab es die Forderung, die frühere Wolgarepublik wiederentstehen zu lassen. Der damalige russische Präsident Boris Jelzin hat darauf sarkastisch reagiert und ein Militärgelände angeboten. Das hat den Gedanken auszuwandern bei vielen Russlanddeutschen stark intensiviert.

Wie schwierig war es nach Deutschland zu kommen?

Für die Einreise nach Deutschland mussten wir nachweisen, dass ich deutsche Vorfahren hatte. Alle meine Vorfahren hatten deutsche Namen. Es hat ein ganzes Jahr gedauert, bis wir die  Genehmigung zur Einreise nach Deutschland bekamen. Neben meiner Frau und meinen beiden Kindern sind auch meine Eltern und meine Geschwister nach Deutschland gekommen. Mitnehmen konnten wir wenig, das Haus haben wir für 1000 oder 2000 Mark verkauft, viele konnten ihre Häuser gar nicht verkaufen. Vergangenes Jahr bin ich in mein Heimatdorf gereist, dort steht heute die Hälfte der Häuser leer.

... und der Neuanfang?

Der war sehr schwer. Die größte Schwierigkeit war Arbeit zu finden. Eine große Enttäuschung war, dass – anders als heute – die Bildung nicht anerkannt wurde. Ich hatte Geschichte studiert und als Lehrer gearbeitet.  Ich habe die erste Zeit  darunter gelitten, nicht als Lehrer arbeiten zu können. Deutschland hat das Potenzial der Aussiedler nicht ausgeschöpft. Hinzu kamen ein komplett fremdes Umfeld und auch Sprachprobleme. Obwohl wir deutsch als Muttersprache hatten, war es schwierig den alemannischen Dialekt zu verstehen. Heute fühle ich mich gut integriert.

Spüren Sie als Russlanddeutscher die Ukraine-Krise im Alltag?

Ich werde schon ab und zu von Deutschen darauf angesprochen, wie ich die Situation einschätze. Ich selbst spreche darüber auch mit Ukrainern, die in Lörrach leben.  Die Situation in der Ukraine  hat sehr viel mit den Interessen von Russland und Europa zu tun.

Bei der  Zusammenarbeit von Russland und Europa hat sich in den vergangenen Jahren viel getan. Ich hätte mir gewünscht, diesen Weg weiter zu entwickeln. Bei Städtereisen habe ich immer wieder gesehen, wie viele Russen nach Europa reisen. Wenn man den Weg des kulturellen Austausches weitergegangen wäre, hätte man mehr erreicht. Viele Brücken wurden in jüngster Zeit kaputt gemacht, und Vertrauen ist verloren gegangen.

ZUR PERSON

Vassili Kraus ist 56 Jahre alt und wurde in Samarka in der sibirischen Altairegion geboren. Er studierte und unterrichtete als Lehrer Geschichte. Im Jahr 1993 kam er mit seiner Familie nach Deutschland und arbeitet als Hausmeister bei der Wohnbau Lörrach.

KURZINFO

Der 28. August ist der Tag der Russlanddeutschen. An diesem Tag wird an ihre Geschichte erinnert:

  • Auf Einladung von Zarin Katharina der Großen kamen im Jahr 1763 die ersten deutschen Bauern nach Russland. Sie ließen sich insbesondere an der Wolga nieder.
  •  Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden die Russlanddeutschen verfolgt. Am 28. August 1941 erlies Josef Stalin ein Dekret zur Zwangsdeportation der Russlanddeutschen nach Sibirien.
  • Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kehrten in den 90er Jahren rund 2,1 Millionen Russlanddeutsche nach Deutschland zurück.
  • Vom 6. bis 24. Oktober ist im Landratsamt die Ausstellung „Deutsche aus Russland – Geschichte und Gegenwart“ der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland zu sehen.

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