Nein, absolut nicht. Aber man muss auch klar sehen: Wenn ich aus der Kirche austrete, trete ich nicht ausschließlich aus der Struktur aus - was ich in gewisser Hinsicht und in gewissen Bereichen sogar ab und an ganz gut nachvollziehen kann. Ich leide auch unter manchem, was diese Struktur bewirkt. Aber diese Menschen treten ein Stück weit auch aus demjenigen aus, was Kirche als Glaubensgut verkündet. Viele auch bewusst, das weiß ich. Aber vielfach geschieht dies auch "unbewusst", und durch "formale Distanzierungen" wird die Botschaft mit "über Bord geworfen". Oftmals wird auch nicht klar gesehen, wie intensiv eigentlich - trotz Austritt - kirchliche Infrastruktur genutzt wird: Hochzeiten, Beerdigungen, Kindergärten, Sozialstationen, Caritas. Man nutzt viele Angebote, in denen Kirche christlichen Glauben lebt, ist aber aus der Institution draußen. Man will die formale Seite nicht mittragen, nutzt aber Angebote und Inhalte gern.
Es gibt andererseits auch viele Dinge, die Kirche in der modernen Gesellschaft einfach nicht zusammenbringt. Thema Zölibat, Rolle der Frau, die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen. Wo und wie muss sich Kirche ändern, damit sie wieder überzeugender wird?
Kirchliches Leben darf sich nicht an der Oberfläche abspielen, in päpstlichen und bischöflichen Äußerungen. Ich halte es für wichtig, dass die Menschen auch danach schauen, was die Kirche vor Ort macht, im eigenen Umfeld. Ich hoffe, dass Menschen ihre Entscheidung für oder gegen Kirche eben nicht ausschließlich von institutionellen Problemen oder offiziellen Verlautbarungen abhängig machen, sondern auch genau hinschauen, wie sich Kirche vor der eigenen Haustür engagiert und damit letztlich auch von diesem Standpunkt aus entscheiden, ob sie zu dieser Kirche gehören wollen. Generell muss sich Kirche aber sicher den Vorwurf gefallen lassen, ob sie nicht noch immer in Lebensbereiche eingreift, in denen sie nichts oder wenig zu sagen hat. So muss sich Kirche im Bereich moralischer Vorschreibungen durchaus fragen lassen, inwieweit das, was sie sagt, auch wirklich biblisch und damit christlich begründbar ist. Lassen sich die Aussagen tatsächlich aus dem christlichen Glauben heraus begründen? Und Kirche muss sich fragen, inwiefern sich unsere Gesellschaft verändert hat, so dass Kirche heute anders argumentieren muss, sich "abdaten" muss, ohne dabei ihre Werte über Bord zu werfen. Ich denke etwa an die Rolle der Frau, Fragen der Sexualmoral oder den Umgang mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Hier muss man schon fragen, ob sich Kirche womöglich über Jahrhunderte an Positionen gehalten hat, die biblisch nicht, oder nur sehr schwer verifizierbar sind.
Was spricht dafür, in der katholischen Kirche zu bleiben?
Ich halte die Kirche unter anderem deshalb im wahrsten Sinne des Wortes für notwendig, weil keine andere Institution verkündet, dass es mehr gibt als das "Hier und Jetzt". Die Perspektive über dieses Leben hinaus, die Religion bietet - das gilt für Judentum und Islam genauso - muss Menschen dringender denn je ins Bewusstsein gerufen werden, sowohl im Umgang mit der eigenen Lebens- und Selbstverwirklichung, als auch im Umgang mit Brüchen und Niederlagen.
Inwieweit lebt Kirche ihre Werte vor?
Ich behaupte, dass die christlichen Kirchen, evangelische wie katholische, versuchen, ihre Werte zu leben. Wir sind im karitativen Bereich tätig, wir engagieren uns in hohem Maße für Menschen: von der Arbeit mit Kindern bis zur Hinwendung zu Sterbenden. Vom Kindergarten über die vielfältige Jugendarbeit, den Krankenhäusern, Altenheimen und im Hospiz.Diese Kirche hat einen unverzichtbaren Platz im Leben der Stadt.
Das sind sicher wichtige Offerten der Institution katholische Kirche. Aber wo und wie wird der Kern des Christentums, die Nächstenliebe, darüber hinaus noch gelebt?
Ich denke neben den genannten Dingen auch an die Flüchtlingsarbeit - etwa an unser Grundstück in Haagen - und an die Unterbringung von Obdachlosen in der Haagener Straße. Ich denke an das intervenierende Engagement unserer Kirche in gesellschaftlichen Fragen, beispielsweise der Diskussion um den "assistierten Suizid" oder die "aktive Sterbehilfe". Es ist natürlich nie genug, wir könnten und müssten immer noch mehr tun, doch manches geht über unsere Kapazitäten hinaus. Aber ich kann sagen, wir tun nach Kräften, was wir können.