Die Zahl obdachloser Menschen in Lörrach steigt stetig. Waren es 2012 noch 150, sind aktuell 276 Personen obdachlosenpolizeilich untergebracht. Auch die Zwangsräumung droht häufiger. Von Guido Neidinger Lörrach. „Es gibt in Lörrach ein sehr stabiles und gut funktionierendes Netzwerk mit viel Engagement.“ Mit diesem positiven Fazit schloss Bürgermeister Michael Wilke gestern den Besuch der drei Einrichtungen ab, die sich um Obdachlose kümmern. Dabei verwies er auch auf die Anstrengungen der Stadt im Kampf gegen Wohnungslosigkeit. Nicht auf Schnellschüsse, sondern auf langfristige Konzepte setzt Wilke, um die Zahl wohnungssuchender Menschen am unteren Rand der Gesellschaft in der Stadt zu verringern. „Eine Matratze reicht da nicht.“ Nötig sind vor allem bezahlbare Wohnungen. Die Wohnungsnot, vor allem für Menschen in sozialen Notlagen, ist das größte Problem. Das war immer wieder in den Einrichtungen zu hören. Besucht wurden die gemeinnützigen Vereine „Kreuzweg“ an der Mozartstraße, „Pro digno“ an der Basler Straße und das Erich-Reisch-Haus an der Wallbrunnstraße. Von diesen wird die Stadt bei ihrer Pflichtaufgabe, Obdachlosen eine Unterkunft bereitzustellen, vielfältig unterstützt. Auffallend: Alle drei Organisationen haben ihre Wurzeln im christlichen Glauben. 1. Station: Kreuzweg e. V. „Ich nehme als Mieter nur Drogenabhängige, Kriminelle und Alkoholiker“, betont Robert Horvath, der Vorsitzende des Vereins „Kreuzweg“. Dieser entstand 2009 aus der gleichnamigen christlichen Rockband. Zunächst gab es in einem Wohnhaus auf dem Salzert eine Kommune mit 14 Drogenabhängigen und Alkoholikern. Hier sammelte Horvath, der noch zu 60 Prozent als Sozialarbeiter in Basel tätig ist, seine ersten Erfahrungen und machte mit seiner Frau weiter. Horvath kaufte die maroden Häuser Mozartstraße 2 und 4 und sanierte sie nach und nach. Heute bietet er 19 Personen in kleinen Wohngruppen eine menschenwürdige Bleibe. Seine Mieter unterschreiben einen Mietvertrag, sind also genau genommen nicht mehr obdachlos und können dauerhaft bei ihm wohnen. Warum tut Horvath sich das an" „Man muss ein Herz für diese Menschen haben, obwohl sie einem manchmal gehörig auf die Nerven gehen“, erklärt er. Auch wenn Horvath die Wohnsituation in seinen Häusern als stabil und gut bezeichnet, hätten die Wände viel zu erzählen, wenn sie sprechen könnten. Seit 2009 wohnten hier 40 Personen. Es gab fünf Verhaftungen und fünf Bewohner tauchten spurlos unter, einige werden polizeilich gesucht. 14 Mieter sind derzeit schwer drogenabhängig, einige alkoholkrank und einer ist spielsüchtig. Viele Gründe, um die Nase voll zu haben. Aber so tickt Horvath nicht. Im Gegenteil: Zu seinem 50. Geburtstag wünscht sich der 49-Jährige ein drittes großes Haus, in dem er weitere Obdachlose, am liebsten Frauen, unterbringen und betreuen kann. Dazu gehören Behördengänge, Drogenhilfe, Gefängnisbesuche, Hilfe, wenn der Gerichtsvollzieher anklopft, oder die Beerdigung. Mindestens 30 Plätze möchte er Hilfsbedürftigen künftig bieten. Die Arbeit des Vereins Kreuzweg wird finanziert über die Mieteinnahmen, viel ehrenamtliches Engagement und Spenden. Von der Stadt erhielt er bisher einen Zuschuss in Höhe von 2000 Euro jährlich, inzwischen sind es 2280 Euro. 2. Station: Pro digno e. V. Ebenso wie der Verein Kreuzweg obdachlosen Menschen beim Neustart ins Leben hilft, sieht „Pro digno“ seine Arbeit als „Schlüssel zur Resozialisierung“, wie es im Jahresbericht heißt. Eigentlich betreibt der Verein im ehemaligen Gasthaus „Rössle“ an der Basler Straße eine Herberge für Menschen, die auf dem Wohnungsmarkt nichts finden. Das Rössle ist sozusagen ihre letzte Chance – oft für lange Zeit. Denn der Begriff Übergangswohnheim ist dehnbar. So lebt ein Bewohner schon seit 1995 hier. Einmal ist es die Wohnungsknappheit in Lörrach, die die Menschen bindet. Andererseits schätzen sie die Gemeinschaft und die Betreuung. Vielleicht haben viele auch Angst davor, in einer eigenen Wohnung ohne soziale Kontakte depressiv zu werden und Alkohol oder Drogen erneut zu verfallen. Die Bewohner kommen nach den Worten von Hausleiterin Valérie Bonfiglio und ihrem Co-Leiter Andreas Busch oft aus der Therapie, aus dem Gefängnis oder haben ihre Wohnung durch Zwangsräumung verloren. Einige sind berufstätig, finden aber keine Wohnung, weil sie sich diese vom Mindestlohn nicht leisten können. Derzeit sind im Rössle 26 Personen untergebracht, darunter zwei Frauen. Hinter ihnen verbergen sich schlimme Schicksale, wie Bonfiglio weiß. In Stichworten liest sich das beispielhaft so: Trennung von der Frau, Depression, Jobverlust, zuviel Alkohol, Wohnungsverlust . . . Endstation Rössle. Ihre tägliche Arbeit und die ihres Kollegen Busch beschreibt Bonfiglio als „kleine Therapie“. Ihr ist daran gelegen, die Menschen wieder lebenstüchtig zu machen. Das gehe vor allem über die Zusammengehörigkeit. „Je mehr Gemeinschaft, desto mehr Verantwortungsbewusstsein und Rücksichtnahme“. Auch bei „Pro digno“ ist die Hilfe im Alltag sehr wichtig. Die Arbeit im Rössle teilen sich zwei Sozialarbeiter (1,5 Stellen) sowie drei Minijobber und sieben ehrenamtliche Helfer. Das Geld für den Betrieb kommt aus mehreren öffentlichen Töpfen. Die Stadt übernimmt jährlich eine Defizitgarantie bis zu 10 000 Euro. Nicht möglich wäre die Arbeit allerdings ohne private Spenden. 30 000 Euro waren es 2015. Valérie Bonfiglio wünscht sich ein zweites Haus für Bewohner, deren Resozialisierung fortgeschritten ist. 3. Station: Erich-Reisch-Haus Die in Lörrach bekannteste Anlaufstelle für Obdachlose ist das Erich-Reisch-Haus unter dem Dach der Caritas. Diese fühlt sich seit jeher besonders Menschen in Not verpflichtet. Mit der Einrichtung arbeitet die Stadt Lörrach eng zusammen. „Das Erich-Reisch-Haus ist unser Anker“, betonte Michael Wilke gestern. Es bietet zwölf Aufnahmeplätze, 15 Plätze in der Eingliederung und 21 Plätze für betreutes Wohnen. In der Notschlafstelle übernachten von Jahr zu Jahr mehr Personen. Innerhalb von zehn Jahren hat sich die Zahl von 120 auf 892 vervielfacht. Auch im Sommer besteht inzwischen Bedarf. Die Fachstelle für Wohnungssicherung ist im Erich-Reisch-Haus angesiedelt. Ziel der Arbeit von Leiterin Silvia Ziegler ist es, von der Zwangsräumung bedrohten Familien ihr Zuhause zu erhalten. 131 Haushalte nahmen die Hilfe im vergangenen Jahr in Anspruch. Für dieses Jahr wird mit gut 150 Fällen gerechnet. Entsprechend groß ist nach den Worten von Hausleiter Stephan Heinz der Wunsch auf Erhöhung des Stellenanteils von einer Viertel- auf eine Halbtagsstelle. Neu ist die mobile Obdachlosenbetreuung. In dem zweijährigen Pilotprojekt betreut Gael Haab 100 Haushalte mit 280 Personen, die in Lörrach derzeit obdachlos sind und von der Stadt in eine Notunterkunft eingewiesen wurden. Die Stadt trägt die Kosten für die Halbtagsstelle und will laut Wilke, dass „möglichst viele Menschen aus dieser Situation herauskommen, einen eigenen Mietvertrag erhalten und wieder selbst Verantwortung für ihr Leben übernehmen können“. Das 1984 gegründete Erich-Reich-Haus unterhält auch eine täglich geöffnete Wärmestube und ist damit laut Heinz ein kommunikativer Ort „für die örtliche Armutsbevölkerung“. Zum symbolischen Preis gibt es hier Kaffee (30 Cent) oder einen Imbiss (Wienerle mit Brot für 70 Cent). Donnerstags wird ein kostenloses Frühstück angeboten.