Lörrach hat viele Facetten: Der Reiz der Stadt zeigt sich im Offenkundigen ebenso wie in Nischen. In unserer Sommerserie stellen Bürger ihre liebsten Orte in Lörrach vor – ein persönlicher Blick auf bekannte und weniger bekannte Ecken und ein schönes Zeugnis der Vielfalt in der Lerchenstadt. In der sechsten Folge schreibt Wolfgang Göckel, Journalist und Mitarbeiter des Lörracher Jahrbuchs, über den Röttler Kirchberg. Mein schönster Ort in Lörrach" Ich streifte in Gedanken durch meine Stadt und landete auf dem Röttler Kirchberg, dem „Chilft“. Dort sitze ich gerne auf der Kirchmauer, vorzugsweise an Sommerabenden, freue mich am alten Gemäuer, dem letzten Tageslicht, einer frischen Brise von der Lucke her, im Juli am Lindenduft. Und jedes Mal lese ich auf der Sandsteintafel über der Kirchtüre diese Botschaft, die beginnt mit „ich marggraf rudolf …“. Es ist auch hier der Blick zurück, der dem Bild eines Ortes Tiefe gibt. Vor etlichen Jahrzehnten war ich Woche für Woche zum Konfirmandenunterricht nach Rötteln hinaufgestiegen – fast vergessen das, Pfarrer Kaufmann hat mich nicht gewinnen können. Der Weg war uns Tumringer Buben längst vertraut gewesen. Wir sind oft in den Röttler Wald gezogen und weiter zur Burg. Die Ritter, denen wir nachspürten, waren die Herren von Rötteln gewesen und in ihrer Nachfolge die Markgrafen von Hachberg-Sausenberg. Unter den Markgrafen – das hat sich mir später erschlossen – tat sich Rudolf III. (1343-1428) hervor. Was Historiker über ihn zusammengetragen haben, fügt sich zum Bild eines angesehenen und ehrgeizigen Herrschers. Er mehrte seinen Besitz beträchtlich. Im Auftrag Mächtiger war er als Unterhändler und Schlichter unterwegs und geriet in seinen alten Tagen selbst in teure Fehden hinein. Auch deshalb musste sein Sohn Wilhelm zusammen mit der Herrschaft hohe Schulden übernehmen. Soviel ich auch bis heute gelesen habe über Rudolf III., über seine Burg, seine Markgrafschaft – am nächsten komme ich diesem Mann an der Röttler Kirche. Er hat eine Kapelle anbauen lassen als letzte Ruhestätte für sich und seine Frau Anna von Freiburg: In der Mode ihrer Zeit liegt sie in der Gruft neben ihrem mit Brustharnisch und Waffenrock bekleideten Mann – ein hervorragender Künstler hat beide einst in Stein gehauen. Noch näher bin ich diesem Rudolf draußen vor der Kirche, wo ich über dem Eingang seine Nachricht aus dem Jahr 1401 sehe und mir denke, dass er selbst stolz auf diese Zeilen geblickt hat: „ich marggraf rudolf macht disi kilchen in dem jar do man zalt von gotes geburt vierzechen und ein jar“. Ob er einen kompletten Neubau in Auftrag gegeben hatte, ob er eine Vorgängerkirche lediglich erweitern ließ: Kunsthistoriker sind sich nicht ganz sicher. Ganz gewiss hatte es schon vor 1401 ein Gotteshaus gegeben. Eine Kirche von „Raudinleim“ (zu übersetzen mit: roter Lehm) ist bereits in einer Urkunde von 751 erwähnt; sie könnte von Missionaren genau am Ort einer vorchristlichen Kultstätte errichtet worden sein. Der Kirche vorgelagert liegt das Pfarrhaus. Darin wohnt heute das Pfarrehepaar Beate Schmiedtgen und Daniel Völker. Vor mehr als zwei Jahrhunderten hieß der Pfarrer Friedrich Wilhelm Hitzig, der engste Freund Johann Peter Hebels. Ging Hebel den schnurgeraden Weg zum Chilft hinauf, hat er des großen Markgrafen Kirche noch in originaler Gestalt gesehen: Ein einfacher rechteckiger Bau war‘s, mit einem Friedhof zwischen der Kirche und den starken Ringmauern. Was wir heute sehen, ist das Ergebnis von Renovierung und Erweiterung gleich nach 1900: Es kamen hinzu der Anbau mit Doppelgiebel an der Südseite sowie die runden Treppentürmchen. Vom Röttler Kirchberg habe ich vor vielen Jahren im Lörracher Jahrbuch erzählt, vom Leben der Pfarrer (etliche betrieben nebenher eine kleine Landwirtschaft) und von ihren Nachbarn. Steiger, Böhringer, Ohm, Scherer, Brunnen, Vogtsberger, Fischer sind alte Familiennamen auf dem Chilft. Heute leben hier etwa drei Dutzend Menschen, froh über ihren erhaben liegenden Wohnort – aber in den Ohren diese Autobahn, die alte Wege zwischen Kirche und Burg brutal durchschnitten hat. In ihren Häuser auf dem Chilft stecken Steine aus der Burg. In der Ruine haben sich viele bedient nach jenem schrecklichen Jahr 1678, als bereits im Januar französische Truppen die Siedlung auf dem Kirchberg zerstörten und im Februar Tumringen zur Hälfte niederbrannten – auf dem Chilft blieben lediglich noch die Kirche und das Landschaftshaus mit dem Staffelgiebel stehen. Im Juni 1678 ging auch Burg Rötteln in Flammen auf, niemand baute sie wieder auf. Die Markgrafschaft wurde fortan von Lörrach aus verwaltet. Iris Spannbauer, die Kirchendienerin – sie wohnt auf dem Chilft gleich nebenan – lässt die Tür zur Röttler Kirche tagsüber offen. Hinter dem Eingang nehmen sich Neugierige einen von der Pfarrerin geschriebenen Kirchenführer. Den nehme auch ich gerne in die Hand und entdecke beim Herumgehen Neues. Zuletzt: die Grabplatte der Anna Maria Günter aus dem Jahr 1658, außen an der Kirchenmauer – sie war des Scharfrichters Heidenreich Ehefrau gewesen.