Lörrach. Stadt und Israelitische Kultusgemeine feiern am kommenden Sonntag gemeinsam den 20. Jahrestag der Wiedergründung der jüdischen Gemeinde in Lörrach. Im Interview mit Bernhard Konrad sprechen die Gemeindevorsitzende Hanna Scheinker und Rabbiner Moshe Flomenmann über den Neuanfang zu Beginn der 90er Jahre und die heutige Verankerung jüdischen Lebens in der Stadt: ein Gespräch über das Ankommen und Bleiben.
 
Frau Scheinker, Sie haben Anfang der 90er Jahre schon früh bei der Betreuung jüdischer Neubürger mitgeholfen. Wie haben Sie die Anfänge in Erinnerung? Welche Menschen kamen damals in die Region, und welche Situation haben sie hier vorgefunden?
 
SCHEINKER: Ich habe gemeinsam mit dem mittlerweile verstorbenen Dr. Georg Weinberg eine Gruppe mit jüdischen Bürgern gegründet und betreut. Die Mehrzahl der Menschen kam aus der Ukraine, einige auch aus Russland. Sie konnten kein Deutsch und hatten im Allgemeinen keine Vorstellungen vom Leben in Deutschland. Sie wussten nicht, ob sie in ihrer neuen Heimat akzeptiert werden, aber sie wussten, dass sie den Lebensverhältnissen in der ehemaligen Sowjetunion den Rücken kehren wollen.
 
Aufgrund der dortigen Diskriminierung jüdischer Bürger?
 
SCHEINKER: Selbstverständlich. Obgleich es diese offiziell nicht gab, hatten Juden im Alltag unter wirtschaftlichen und politischen  Nachteilen zu leiden. Für diese Menschen war es schon ein Trost, dass wir ihnen vermitteln konnten: Ihr müsst hier keine Angst haben. Viele  waren sehr gebildet. In der sowjetischen Realität konnte man Kindern nicht viel geben – außer Bildung.
 
Als Sie vor über 20 Jahren mit ihrer Arbeit begonnen haben: Was hat Sie zu diesem Engagement motiviert?
 
SCHEINKER: Ich kam mit meiner Familie 1980 als Spätaussiedlerin  nach Lörrach. Beim Fußfassen hat mir eine evangelische Sozialarbeiterin sehr geholfen.  Sie hat mir meine Angst genommen. Als sie die Region verließ, sagte sie mir zum Abschied: ‘Hanna, ich habe Dir geholfen. Ihr seid nun  angekommen, alles läuft in normalen Bahnen. Es wird eine Zeit kommen, da werden andere Menschen kommen, die Deine Hilfe brauchen: Denke daran.“ Das habe ich bis heute nicht vergessen.
 
Wie haben Sie die Hilfe organisiert?
 
SCHEINKER: Dr. Weinberg stammte aus Memeln und war  bereits  seit zehn Jahren in Deutschland. Er war buchstäblich  Feuer und Flamme für die Menschen: Er hat alles für sie getan: Wohnungen gesucht, übersetzt, bei Ämtergängen und Arztbesuchen geholfen und vieles mehr.  Ich war jünger und habe mich an ihm orientiert.
 
Die religiöse Facette spielte damals nur eine untergeordnete Rolle.
 
SCHEINKER: Das war so: Meine Generation durfte ihre Religion in der Sowjetunion nicht ausüben. Auch in der Schule war Religion kein Thema.
 
Wo haben Sie sich Anfangs getroffen?
 
SCHEINKER: Zunächst in den so genannten Übergangswohnheimen. Unsere Gruppe wuchs mit der Zeit, etliche haben sich sehr engagiert.   Nach Gesprächen mit Museumsleiter Markus Moehring fanden  unsere  Treffen  mit rund 30 bis 40 Personen regelmäßig   unter  dem Dach des Museums statt. Bei einem dieser Treffen – einer Feier, bei der auch viele Kinder zugegen waren – sagte der damalige Bürgermeister Hans-Werner Grotefendt zu mir: „Frau Scheinker, wir müssen in Lörrach eine Synagoge bauen.“ Seither ließ uns dieser Gedanke nicht mehr los. Auch Oberbürgermeisterin Gudrun Heute-Bluhm  hat uns sehr unterstützt, ich betone das immer wieder gerne.
 
Zunächst war die Gemeinschaft aber areligiös
 
FLOMENMANN: Areligiös war das Leben der Gemeinschaft nie.  Die Gemeinschaft war immer schon religiös orientiert –  sie  hatte aber wenig Kenntnis von ihrer Religion.

SCHEINKER: Unser Ziel war zum einen die Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben in der Stadt, aber die  Religion stand in der Gemeinschaft durchaus von Beginn an  im Zentrum.
 
Wie hat sich das religiöse Gemeindeleben entwickelt, wann kam erstmals ein Rabbiner in die Gemeinde?
 
SCHEINKER:  Dr. Weinberg war Sohn eines Kantors und kannte die religiöse Seite des Judentums sehr gut. Er hat immer betont, dass die Kenntnis unserer Wurzeln, unserer Religion, ein zentraler Punkt unserer Identität ist. Er vermittelte den Kontakt zu einem religiös gebildeten jungen Menschen, der mit uns gebetet hat. Er war aber kein Rabbiner.

FLOMENMANN: 2003 kam ich  erstmals als Rabbiner  in die Stadt. Dann war ich für eine Weile in Sachsen-Anhalt, und nun bin ich seit geraumer Zeit wieder hier in Lörrach.
 
Was bedeutete die Einweihung der Synagoge für das jüdische Leben in Lörrach.
 
SCHEINKER:  Die Einweihung der Synagoge war eine große Freude für mich.  Ich wusste: Wir bauen auf den Scherben der Vergangenheit. Wir dürfen das nicht vergessen, aber wir müssen gemeinsam nach vorne schauen, optimistisch sein. Wir haben uns immer als Lörracher Bürger betrachtet Die israelitische Kultusgemeinde ist    zwar eine   vergleichsweise kleine Gruppe, aber wir wollen Flagge zeigen, Führungen machen, über unsere Religion und auch über ehemalige jüdische Bürger der Stadt  informieren. Ich nenne etwa den großen Kinderarzt Moses, der nach Amerika ausgewandert ist. Viele alte Menschen können sich noch an ihn erinnern. Ich hatte viele  bewegende Gespräche mit älteren Lörracher Bürgern, die hoffen, dass in Deutschland nie mehr Zeiten kommen, in  denen Menschen um ihr Leben fürchten müssen und zum Auswandern gezwungen werden.
 
Derzeit entsteht neben der Synagoge ein Gebäude, in dem eine Kita und ein koscheres Café untergebracht werden sollen. Die Gemeinde veranstaltet gelegentlich Konzerte, in Heiners Backparadies wird koscheres Brot gebacken, Sie suchen derzeit einen Lebensmittelanbieter, der koschere Speisen ins Sortiment aufnimmt. Sehen Sie sich in Lörrach angekommen?
 
FLOMENMANN:  Wir haben gebaut, um zu bleiben. Wir gehören zu Lörrach, wir sind verankert in der Stadt, wir sind eins.
 
Wie würden Sie die Aufgaben der Israelitischen Kultusgemeinde heute beschreiben?
 
FLOMENMANN:  Wir sind in erster Linie eine Religionsgemeinschaft. Religion spielt für uns die wichtigeste Rolle, sie wird auch Kindern altergerecht vermittelt. Aber auch Kultur, Geselligkeit, Jugendarbeit und die soziale Unterstützung für unsere Mitglieder gehört dazu.
Eine zweite Säule ist die Öffnung nach außen. Wir tun viel, um jüdisches Leben in Lörrach transparent zu machen. Wir möchten integriert, aber nicht assimiliert sein.  Meine Aufgabe als Rabbiner in dieser sehr guten, sehr gut entwickelten Gemeinde ist es, die Menschen näher zur Religion zu bringen und gemeinsam mit der Gemeindeführung, Hanna Scheinker und   Anna Schneider,  den Gemeindemitgliedern das Gefühl zu geben, dass sie hier willkommen und zu Hause sind. Sie können auf die Gemeine zählen, was auch immer passiert.

SCHEINKER: Noch ein Wort zur  Verankerung  in der Stadt:  Nach dem 11. September 2001, den Anschlägen auf das World Trade Center,  hat der damalige zweite Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde, Herr Weiß, gesagt: Wir müssen uns sofort mit den anderen Religionen in Lörrach  organisieren, um zu zeigen: Wir sind alle Menschen, egal welcher Religiosität. Daraus hat sich die Gruppe Abraham entwickelt.
 
Es gab in Lörrach bislang glücklicher Weise kaum antisemitische Anfeindungen.
 
SCHEINKER:  Lassen Sie mich  bitte so  antworten: Es ist eine Freude, wenn uns regelmäßig junge Menschen aus Schulen besuchen. Wenn die Jugendlichen zu uns kommen, dann sind manche anfangs mitunter etwas desinteressiert und ironisch gestimmt.  Wenn wir aber miteinander reden und darüber sprechen, was das Judentum ist und was uns vereint, dann verändern sich die Gesichter, manche leuchten geradezu.  Viele bedanken sich  beim Abschied. Ich glaube daran: Wenn wir miteinander reden, uns für den anderen interessieren, ihn respektieren, dann verbreiten wir Freundschaft und Frieden.