Hat der zur Tatzeit 17-jährige Angeklagte im Neuenburger Rachemord-Prozess von vornherein geplant, Patrick H. umzubringen, als er von der mutmaßlichen Vergewaltigung seiner Schwester hörte" Oder hat er sich nur in Rachephantasien hineingesteigert, in einer „Parallelrealität“ gelebt und selbst während der Tat nicht damit gerechnet, dass das Opfer sterben könnte" Von Dorothee Philipp Freiburg/Neuenburg. Letztere Schlussfolgerung legte gestern das Plädoyer seines Anwalts nahe, der über eine Stunde lang die Vorwürfe von Oberstaatsanwalt Berger auseinandernahm. Dieser hatte am vergangenen Mittwoch in einem fünfstündigen Plädoyer eine achtjährige Jugendstrafe beantragt. Harte Strafen gefordert Für den Vater des Angeklagten und den an der Tat ebenfalls beteiligten 21-jährigen Freund, der das Opfer während der Messerstiche festgehalten haben soll, hatte Berger lebenslänglich gefordert. Der andere Freund, der das spätere Opfer auf den Pendlerparkplatz an der Autobahnausfahrt gelockt haben soll und der noch vor dem eigentlichen Tatgeschehen das Weite suchte und als Einziger der vier Angeklagten auf freiem Fuß ist, soll nach dem Antrag des Oberstaatsanwalts mit einer zweijährigen Bewährungsstrafe davonkommen. Der Anwalt des Jugendlichen, der die Messerstiche geführt haben soll und das auch nicht bestreitet, holte weit aus für seine Ausführungen, die zunächst den Rache-Begriff unter die Lupe nahmen als ein der Menschheit genetisch innewohnendes Merkmal. Heimtücke könne er keine erkennen, denn die Tat in aller Öffentlichkeit ohne jegliche Versuche, Spuren zu verwischen, sei das Finale eines Gewaltexzesses und nicht von langer Hand geplant gewesen. Deswegen sei eine Jugendstrafe von fünf Jahren angemessen, sagte er nach über einer Stunde Redezeit. Auf Aufhebung des Haftbefehls gegen seinen Mandanten plädierte der Anwalt des 48-jährigen Vaters. Ihm könne man keine Verstrickung in ein Mordkomplott nachweisen. Allerdings räumte der Verteidiger ein, dass der Vater einen Schlag mit einem mitgeführten Schlagstock gegen die Beine des Opfers geführt habe, ein objektiver Tatbestand, der als gefährliche Körperverletzung zu werten sei. „In neun Monaten kein Wort des Bedauerns“ Ganz anders sah der Anwalt der Nebenkläger, der Familie des Opfers, den Sachverhalt. In seinem relativ kurzen Plädoyer schloss er sich den Forderungen der Staatsanwaltschaft an. Fünf Minuten können eine lange Zeitspanne sein, wenn innerhalb dieser ein gesunder Mensch zu Tode gebracht wird. Dass die drei inhaftierten Angeklagten bis zum Schluss unmittelbar anwesend waren und der Vater und der Freund zumindest zugesehen haben, wie der Sohn auf das Opfer einstach, ist für den Nebenkläger-Anwalt Mord. Er wirft den drei Angeklagten zudem vor, bei den Vernehmungen nachweislich gelogen zu haben, was die Vorgeschichte und den Ablauf der Tat betrifft. Dass in den neun Monaten Prozessdauer bisher nicht ein Wort des Bedauerns von den Beteiligten, vor allem vom Vater gekommen sei, lässt den Anwalt darauf schließen, dass die Angeklagten die Tat immer noch gut heißen. In dem langen Verfahren sei der Fokus auf die Familie des Opfers verloren gegangen, bedauerte ihr Anwalt. Denn man müsse sich auch vergegenwärtigen, was eine solche Tat für sie bedeute. Dann gab er das Wort der Schwester des Toten. Man hätte im Gerichtssaal eine Stecknadel fallen hören können, als die Frau das Wort an die drei Angeklagten richtete: „Ihr habt euch das Recht herausgenommen, ihn zu finden und zu töten“, sagte sie unter Tränen und mit langen Pausen zwischen den Sätzen. Ihr Bruder sei zu keiner Zeit abgetaucht gewesen, er habe bei der Mutter im Elsass gewohnt. „Er hätte eine Chance gehabt, seine Unschuld vor Gericht zu beweisen“, sagte die Schwester zu den Vergewaltigungsvorwürfen. So funktioniere ein demokratischer Rechtsstaat, „aber das war euch egal, ihr habt ihn in einen Hinterhalt gelockt und bestialisch ermordet, er hatte nicht einmal die Chance, etwas zu erklären“. „Mord hat unsere Familie zerstört“ Der Mord habe ihre Familie zerstört, ihre Gedanken kreisten nur noch darum, wie es wäre, wenn er noch am Leben wäre, und jetzt wie man zusammen Weihnachten verbringen könnte. Dazu käme die schreckliche Erinnerung, wie ihr Bruder leblos, übersät von Messerstichen und blauen Flecken aufgebahrt in seinem Sarg lag. Einen solchen Anblick wünsche sie nicht einmal den drei Angeklagten. „Wir hassen euch nicht, aber wir sind schockiert über eure Emotionslosigkeit. Ihr seid Mörder, ihr müsst ertragen, dass ihr ein Menschenleben und eine Familie zerstört habt“. Auch das Publikum war sichtlich mitgenommen, im Zuschauerraum wurden nach diesem emotionalen Beitrag etliche Nasen geschneuzt.