Steinen „Ein Buch, das unter die Haut geht“

Markgräfler Tagblatt
Stellten das Buch „Hingeschaut“ bei einem Pressegespräch vor: (von links) Verleger Waldemar Lutz, Autor Hansjörg Noe, Bürgermeister Rainer König und Hauptamtsleiter Heinz Wagner. Foto: Harald Pflüger Foto: Markgräfler Tagblatt

„Hingeschaut – Steinen im Nationalsozialismus“ – Buchvorstellung am 5.Juni

Die Buchvorstellung „Hingeschaut – Steinen im Nationalsozialismus“ findet am 5. Juni um 19 Uhr im Schulzentrum in Steinen statt. Einen Tag später ist es bei der Gemeinde und bei „Schreibwaren und Bücher Schmidt“ in Steinen erhältlich.

Von Harald Pflüger

Steinen. Es waren normale Bürger, die den Versprechungen und Verführungen der Machthaber im „Dritten Reich“ gefolgt sind und sie überwiegend freiwillig umgesetzt haben. Das ist die Erkenntnis aus dem Buch „Hingeschaut – Steinen im Nationalsozialismus“. Und gleichzeitig wirft es eine Frage auf: Wäre so etwas heute wieder möglich? Beim Pressegespräch im Haus der Sicherheit waren sich alle Beteiligten einig: So etwas darf nie wieder passieren.

Es hat Jahrzehnte gedauert, bis der Gemeinderat beschlossen hat, die Geschichte Steinens während des „Dritten Reichs“ aufzuarbeiten, denn in der 1982 erschienen Ortschronik wird das dunkelste Kapitel in der Geschichte Deutschlands gerade mal auf eineinhalb Textseiten gestreift.

1985, als eine Debatte um den umstrittenen Kunstmaler Hans-Adolf Bühler geführt wurde, wurde bereits die Forderung laut, die Geschichte Steinens während der Zeit des Nationalsozialismus zu untersuchen. Es hat allerdings 27 Jahre gedauert, bis der pensionierte Schulamtsleiter Hansjörg Noe damit beauftragt wurde, Licht in ein düsteres Kapitel Steinens zu bringen. Dass Steinens früherer Ratsschreiber Alfred Zimmermann nach seiner Pensionierung mit der Ordnung der Gemeindearchive in Steinen und den Ortsteilen beauftragt wurde, hat sich für Noe als Segen erwiesen.

Seine Recherchen führten Noe bis ins Generallandesarchiv nach Karlsruhe, weil sich dort die Akten des Sondergerichts Mannheim im „Dritten Reich“ befinden. Daneben hat Noe Zeitzeugen – die älteste wird jetzt 100 - und deren Nachfahren befragt und Zeitungsarchive ausgewertet. Eine wertvolle Hilfe waren ihm dabei die Ausgaben unserer Zeitung.

Noe hebt hervor, dass er bei seiner Arbeit alle erdenkliche Unterstützung von Seiten der Gemeinde erhalten hatte. Namentlich dankte er besonders Hauptamtsleiter Heinz Wagner. Eine Einflussnahme habe es zu keiner Zeit gegeben. Entstanden ist so ein 176 Seiten starkes, auch dank Bildern aus dem Archiv von Gerhard Schaum reich bebildertes Buch, das sich durch sorgfältige und aufwendige Recherchen Noes auszeichnet. „Die Leute haben mich in ihre Familienalben schauen lassen“, Noe weiß diesen Vertrauensbeweis wohl zu schätzen.

Noe geht auf die Entwicklung der NSDAP und der NS-Organisationen ab 1923 ein und zeichnet auf, wie ein menschenverachtendes System möglich wurde, wie die Menschen während dieser Diktatur gelebt und überlebt haben. Er schildert den Kriegsalltag, das Kriegsende und den Neubeginn nach der Zeit der französischen Besatzung. Das Buch widmet sich der Familie Oppenheim (aus der die weltberühmte Künstlerin Meret Oppenheim hervorging) und Hans-Adolf Bühler, zwei unterschiedlichen Personen, auf der einen Seite einer jüdischen Familie, die vor den Nazis fliehen musste (dieses Kapitel hat die Vorsitzende des Fördervereins Meret Oppenheim, Ingrid Jennert, beigesteuert), und auf der anderen Seite einem Mann, der als Wegbereiter der Ausstellung der Nazis zur entarteten Kunst gilt.

„Hingeschaut – Steinen im Nationalsozialismus“. Hansjörg Noe hat diesen Titel bewusst gewählt. „Wegschauen war üblich, zu jener Zeit“, so Noes Erkenntnis, und nach dem Krieg war oft der Satz „wir wussten von nichts“ zu hören.

Und deshalb hat Noe hingeschaut und die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in der Zeit des Nationalsozialismus 1933 bis 1945 in Steinen und seinen Ortsteilen beleuchtet. Und Noe rückt zurecht, dass der Begriff Musterdorf zunächst für die Fremdenverkehrswerbung verwendet wurde, ehe er von den Nationalsozialisten okkupiert wurde. „Steinen war mittendrin im Nationalsozialismus“, so Noes Erkenntnis nach umfangreichen Recherchen. Daher auch der Untertitel „Steinen im Nationalsozialismus“. Und so ordnet Noe das lokale Geschehen in den Rahmen der damaligen Zeit und Politik, schreibt über die Kämpfe zwischen Linken und Rechten, die Machtübernahme und den Aufstieg der NSDAP im Wiesental. Erschreckt hat Hansjörg Noe das damalige Denunziantentum, auf das er bei seiner Recherchen stieß. Er kann es sich nur mit der Indoktrination durch das Regime erklären. „Die Leute fühlten sich im Recht“, so Noe. Der Gedankte, dass dies falsch ist, sei nicht in den Köpfen gewesen.

Auch wenn es in Steinen lange gedauert hat, bis sich der Gemeinderat durchgerungen hat, die Ortschronik um das Kapitel „Drittes Reich“ zu ergänzen – entstanden ist dann ein ganzes Buch - , so gibt es viele Städte und Gemeinden, die mit der Aufarbeitung ihrer Geschichte in der Zeit von 1933 bis 1945 noch nicht einmal begonnen haben.

Dass Noe bereits rund eineinhalb Jahre nach Auftragserteilung mit seiner Arbeit fertig ist, hat selbst Bürgermeister Rainer König überrascht. Beim Pressegespräch im Haus der Sicherheit würdigte er Noes Einsatz. Noes Tempo dürfte auch den Wunsch einer hochbetagten Zeitzeugin erfüllt haben: „Herr Noe, schreiben Sie schnell, damit ich es noch lesen kann.“ Noe, der während des „Dritten Reichs“ seinen Vater verloren hat, schreibt am Schluss, dass er geglaubt habe, sich in der Zeit des Nationalsozialismus auszukennen. Aber der Blick in die Welt vor Ort habe ihm viel gelehrt.

Bürgermeister Rainer König wünscht sich, dass das Buch zu Gesprächen über das „Dritte Reich“ führt, in welchen Kreisen auch immer, ohne zu richten. Gerade Gespräche erachtet König nach Jahrzehnten des Schweigens („die betroffenen Generationen wollten nicht darüber reden“) für notwendig. Dabei sollte man sich auch die Frage stellen, wie man sich wohl zu jener Zeit verhalten hätte. König weiß, wie wichtig es war, das Buch in einer Zeit zu schreiben, in der es noch erwachsene Zeitzeugen gibt.

Verleger Waldemar Lutz lobt die tolle Zusammenarbeit mit allen Beteiligten; dadurch sei ein Buch entstanden, „das den Leser in die Geschehnisse hineinzieht“ und zu der Erkenntnis bringt, „dass es auch in der Provinz normale Bürger waren, die den Versprechungen und Verführungen der Machthaber gefolgt sind und sie überwiegend freiwillig umgesetzt haben“. Für Lutz ist es ein Buch, das unter die Haut geht, aber keine Schuldzuweisungen ausspricht, dafür aber die Fragen in den Raum stellt: Wie hätte ich mich damals verhalten, und was sollten wir tun, damit sich so etwas nicht wiederholt? „Wenn wir ehrlich sind“, so Lutz, müsse man sagen,“ dass so etwas heute wieder passieren kann“. Deshalb gelte es, als Demokrat wachsam zu sein.

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