Weil am Rhein Ein Dasein im permanenten Ausnahmezustand

Weiler Zeitung
Susi Engler mit „altem Göbbel“ und im bäuerlichen Outfit der 1940er-Jahre beim historischen Rundgang durch das Haltinger Revier, in dem einst die RAD-Barackensiedlung stand . Foto: Walter Bronner Foto: Weiler Zeitung

Stadtführung: Informativer Rundgang mit Susi Engler in Haltingens ehemaliger Barackensiedlung / 70 Teilnehmer

Weil am Rhein-Haltingen (bn). Geschichtswissenschaftler konstatierten schon boshaft, dass der „Zeitzeuge der natürliche Feind des Historikers“ sei. Denn was die Fachleute als allgemein gültige Fakten festhalten, kann sich in der Erinnerung an persönlich Erlebtes völlig anders darstellen.

Typische Beispiele dafür hatte am Pfingstsonntag Stadtführerin Susi Engler beim aufschlussreichen Spaziergang durch Haltingens längst verschwundene, ehemalige Barackensiedlung in petto. Genau 70 Interessierte folgten der kundigen Informantin, die mit antiquierter Zopffrisur und im Outfit der Bauersfrauen jener tristen Jahre erschien, als Bomben auf Haltingen fielen, das Dorf großenteils zerstört und die Bevölkerung mehrfach evakuiert wurde. Mit dabei hatte sie auch ein Fahrrad des damals üblichen Modells „alter Göbbel“ nebst einem Spankorb mit Informations- und Anschauungsmaterial.

Ein solcher Korb reichte seinerzeit vielen Ausgebombten aus, um die ihnen verbliebene Habe zu verstauen. Den Verlust von Haus und Hof, die enormen Ernteschäden und die Demütigungen der in den Zufluchtsorten als „Westwallzigeuner“ verspotteten Evakuierten konnten viele der damals betroffenen Erwachsenen nie verwinden, berichtete Susi Engler aus Gesprächen mit inzwischen verstorbenen Zeitzeugen (auch in ihrer eigenen Familie). Ganz anders die Auskünfte, die sie von jenen erhielt, die damals (wie ihr Vater) noch Kinder waren und jene schlimmen Jahre als eine Zeit voller spannender Abenteuer erlebten. In der drangvollen Enge der vom Reichsarbeitsdienst (RAD) errichteten und nach dessen oberstem Reichs-Funktionär Konstantin Hierl benannten Barackensiedlung waren die Kinder der dicht an dicht hausenden Familien oft sich selbst überlassen und nutzten die Freiheit weidlich, um ihrem fantasiegesteuerten Spieltrieb freien Lauf zu lassen. Und da wurde im Sommer schon mal aufgeweichter Teer von der Dachpappe stibitzt und Schlüssellöcher damit verstopft.

Anschaulich schilderte die Stadtführerin, wie die Wohnbaracken beschaffen waren, wie in jeder ein Ofen des Modells „Der Germane“ (einer davon existiert noch in einer Werkstatt vor Ort) den Wohnraum heizte, in den winzigen Nebenräumen im Winter klirrende Eiseskälte, im Sommer brütende Hitze herrschte. Schilderungen vom Zustand der separaten Toiletten-Baracken, dem Gemeinschaftsbad, den zentralen Stallungen, dem (nur mit Sondergenehmigung nutzbaren) Schlachthaus, dem Schutzbunker und der auch als Nachrichtenbörse stark frequentierten zentralen Backstube vermittelten ein plastisches Bild vom prekären Dasein der über 500 Ausgebombten.

Auch Beispiele dafür, wie sich die Barackenbewohner gegenseitig halfen, wie die Organisation des Alltaglebens ständig ihren Erfindungsgeist und ihre Improvisationskunst herausforderte, waren ebenso Thema wie so manche nachbarlichen Reibereien und Konflikte, die es mühsam zu bereinigen galt.

Susi Englers anektdotengewürzter Anschauungsunterricht erinnerte auch an den Aufbau der Musterhöfe, die Hilfs- oder Zwangseinsätze von Arbeitsmaiden und Kriegsgefangenen, an die verordneten Aktivitäten der Hitlerjugend und anderer Naziorganisationen sowie an etliche Haltinger Originale von damals, was dem informativen Rundgang das Flair eines vielgestaltigen dörflichen Sittenbilds in einer Zeit des permanenten Ausnahmezustands verlieh.

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