Weil am Rhein Geschichte spannend wie ein Krimi

Weiler Zeitung

Gastführer Ulrich Tromm begeistert 30 Teilnehmer mit dem Schicksal des Flüchtlings Raymond Schielin

Von Adrian Steineck

Weil am Rhein. Auf die Spuren eines gescheiterten Fluchtversuchs haben sich am Feiertag gut 30 Zuhörer begeben. Bei der Exkursion mit dem Lörracher Lokalhistoriker und Gastführer Ulrich Tromm und Stadtführerin Sabine Theil erfuhren die Teilnehmer einiges über das Leben von Raymond Schielin, der während des Zweiten Weltkriegs von Hagen über Weil am Rhein in die Schweiz fliehen wollte.

Der damals 21-Jährige stammte aus dem elsässischen Waldighoffen im Sundgau und lebte seit Dezember 1940 im Lörracher Stadtteil Haagen, wo er bei dem damaligen Textilhändler und späteren Versandhausgründer Wilhelm Schöpflin Bleibe und Ausbildungsmöglichkeit fand. Als die Nationalsozialisten ins Elsass einfielen und dort völkerrechtswidrig die Wehrpflicht einführten, sahen Raymond Schielin und seine Mutter Marie ihr einziges Heil in der Flucht. Zwei Versuche unternahmen sie, beide scheiterten.

Wie Ulrich Tromm das ergreifende Schicksal schilderte, wurde Geschichte spannend wie ein Krimi. Und in der Tat hat der Basler Autor Hansjörg Schneider das Leben des Raymond Schielin in seinem Kriminalroman „Der Fall Livius“, in dem es Kommissar Hunkeler mit einem länderübergreifenden Mordfall zu tun bekommt, aufgegriffen. Zugleich machten Ulrich Tromm und Sabine Theil deutlich, wie aktuell das Thema Flüchtlinge ist. So flohen allein im vergangenen Jahr 13,9 Millionen Menschen aus ihren Heimatländern – viermal so viele wie noch 2010.

Die Stadtführung des pensionierten Geschichts-- und Englischlehrers und leidenschaftlichen Lokalhistorikers Ulrich Tromm trug den Titel „Spurensuche – tragisches Ende eines Fluchtversuchs“ und führte von den blauen Stelen an der Lörracher Straße zunächst zum Grenzübergang am Oberen Schlipfweg. Wo Spaziergänger heute allenfalls am Wechsel des Handynetzes bemerken, dass sie die Schweiz betreten haben, unternahmen Raymond Schielin und seine Mutter den ersten Fluchtversuch.

Vom Mut verlassen kehrten sie um

Mit dem Zug fuhren sie von Haagen nach Weil-Ost. Als sich ihr Fluchthelfer, ein Hauinger Zimmermann, in Diskussionen mit Grenzbeamten verstricke, verloren die Schielins aber den Mut und kehrten um. Zu der erst 1934 geschlossenen Grenze wusste Tromm Interessantes zu berichten. So hatte sich der damalige Weiler Bürgermeister Walter Hennes darüber beklagt, dass der Weiler Gastronomie Einnahmen verloren gingen.

Ulrich Tromm zeigte eindrückliche Bilder von der Errichtung des 1942 angebrachten Zauns, der durch 17-jährige Nachwuchskräfte der Reichsarmee erstellt worden war. Diese wiederum taten sich in den nahen Feldern und Reben an den Früchten gütlich, was den Bauern missfiel. „Aus heutiger Sicht muss man feststellen, dass es für diese ahnungslosen jungen Menschen hinterher an die Ostfront ging, und wer von dort unversehrt zurückkam, hatte Glück“, sagte Tromm.

Über die Altweiler Eisenbahnbrücke, unter der die Schielins durchfuhren, ging es weiter zum Mühlenrain, wo Sabine Theil Auszüge aus dem Kriegserinnerungsbuch „Während der Verlobung wirft einer einen Hering an die Decke“ der Schauspielerin und Autorin Hilde Ziegler vorlas. Das Gasthaus Krone bildete schließlich den Endpunkt. Dort trafen die Schielins ihren Fluchthelfer zum zweiten Versuch des Grenzübertritts, der indes direkt in die Verhaftung durch die Gestapo führte.

Mitunter legte Ulrich Tromm einen erfrischenden, selbstironischen Humor an den Tag. So sagte der frühere Lehrer etwa zu den „Spickkarten“, die er benutzte und die Sabine Theil flugs zu „Moderationskarten“ umtaufte: „Wir hätten unseren Schülern etwas erzählt, wenn sie gesagt hätten, sie möchten bloß Moderationskarten benutzen.“

Während der gesamten 90-minütigen Führung war Tromm die Freude am Forschen und Entdecken anzumerken. So erzählte er von der „Espenkolonne“, einem Zusammenschluss junger Elsässer, die vor der Wehrpflicht fliehen wollten, ehe sie an die Ostfront kämen und dort eventuell gegen ihre eigenen Landsleute kämpfen müssten.

Appell an Teilnehmer, selbst aktiv zu werden

Im Espenwald bei Riespach nahmen diese Fluchtversuche ihren Anfang. 210 Menschen kamen über die Grenze, das Justiz- und Polizeidepartement des Schweizer Bundesrats aber entschied, diese nicht zurückzuweisen. Allerdings wurde der Vorfall in der Presse nicht aufgebauscht, um nicht weitere Aufstände gegen das NS-Regime anzuregen.

Ulrich Tromm appellierte an die Besucher, sich für Lokalgeschichte zu begeistern. „Man wird im Stadtarchiv von Weil fündig“, meinte er mit strahlenden Augen. „Aber man muss hingehen und suchen.“ Für seine Stadtführung nutzte er das Schweizer Bundesarchiv in Bern, das Staatsarchiv Freiburg, die Archive in Straßburg und Weil sowie die Dokumentationsstelle in Riehen. Die Einzelheiten von Raymond Schielins Fluchtversuchen wurden von der Gestapo und dem Freiburger Richter Eugen Weiss ermittelt.

Dieser sorgte im Übrigen auch für den letztendlich guten Ausgang der Geschichte. Denn er verurteilte Raymond Schielin zu der vergleichsweise milden Strafe von fünf Jahren Haft wegen „Wehrflucht“, wobei er dessen französische Erziehung geltend machte, die den Elsässer nicht an die harte Disziplin bei den Nationalsozialisten gewöhnt habe. Schon kurz nach Kriegsende wurde Schielin aus dem Gefängnis befreit. Seine Mutter kam zunächst in ein Frauengefängnis bei Schwäbisch-Gmünd, wurde aber im Februar 1945 – „Da gab es schon keine Elsässer Gestapo mehr“, so Tromm – von Erhard Weiss begnadigt.

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