Weil am Rhein (sif). Werner Balkow (85), der als Architekt 26 Jahre lang das Weiler Hochbauamt geleitet und mit dem Umbau der katholischen Kirche zu einer modernen Stadtbibliothek eine Marke gesetzt hatte, weiß aus eigener leidvoller Erfahrung, was es heißt, Flüchtling zu sein. Zweimal war seine Familie gegen Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Flucht, wie er im Gespräch mit unserer Zeitung erzählt hat. Wie geht es Ihnen" Die Jahre fordern natürlich ihren Tribut, aber einige sportliche und private Aktivität halten mich munter. Der Flüchtlingsstrom ist derzeit das beherrschende Thema. Sie selbst mussten 1944 und 1945 auch fliehen. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie heute im Fernsehen die Bilder sehen" Die Geschehnisse von 1945, die ohnehin oft in mir allgegenwärtig sind, kommen wegen der aktuellen Lage verstärkt in die Erinnerung. Erzählen Sie doch bitte einmal: Wie war das damals" Was haben Sie erlebt" Ich lebte mit meiner Familie in Marienberg in Westpreußen und erinnere mich noch gut an die Geschehnisse. Am 24. Januar 1945 stand plötzlich die russische Armee buchstäblich vor der Haustür. Bei minus 20 Grad mussten meine Eltern mit fünf Kindern und zwei Koffern in Richtung Berlin fliehen. Auf dem Weg dorthin hat die russische Armee uns den Weg abgeschnitten, sodass wir zurück in die Danziger Bucht mussten. Dort befanden wir uns im Kessel von Danzig und wurden von allen Seiten beschlossen. Es gelang, einen Platz in dem bereits überladenen Schiff mit 4 500 Menschen an Bord zu bekommen, das nach Dänemark wollte. Außer von Tieffliegern wurde das Schiff nachts von russischen U-Booten gejagt. Nach Tagen landeten wir mit viel Glück in Kopenhagen. Von hier aus wurden 250 000 Deutsche auf verschiedene, bewachte Lager verteilt. Vier Jahre mussten wir hinter Stacheldraht zubringen. Ist die Situation von damals mit der heutigen Flüchtlingssituation vergleichbar" Nur teilweise. Wir haben auf Strohsäcken in Holzbaracken geschlafen, es war eine harte Zeit im Lager. Dänische Ärzte hatten sich damals geweigert, deutsche Kinder zu behandeln. In der Folge sind auch zwei meiner Brüder gestorben. Haben Sie in dem Lager Ihre Jugend verloren" Ja, ich sehe das so, wenn man vier Jahre hinter Stacheldraht einkaserniert ist. Diese Jahre berühren mich noch stark, es war eine sehr chaotische Erfahrung. Ich weiß sehr wohl, was Flucht bedeutet. Wie kamen Sie von Dänemark nach Deutschland" Das war unsere zweite Flucht. Mit dem Zug ging es von Norden nach Süden durch Deutschland. Irgendwann stand unsere restliche Familie auf dem Bahnhof in Offenburg. Für uns war das Wort Flüchtlinge ein Schimpfwort. Denn wir waren ja Deutsche, kamen als Deutsche nicht ganz willkommen nach Deutschland zurück und wurden wie Flüchtlinge behandelt. Wie ging es von Offenburg weiter" Wir fuhren von Dorf zu Dorf durch die Ortenau und landeten nachts gegen 23 Uhr in Schwanau. Der Bürgermeister kam und gestattete uns, zunächst im Rathaus zu übernachten, damit wir wenigstens ein Dach überm Kopf hatten. Tage später wurden wir bei unterschiedlichen Bauernfamilien aufgenommen und mussten in der Landwirtschaft mitarbeiten. Mein Vater und meine Mutter starben in Schwanau, meine Schwester lebt heute noch dort. Und was passierte mit Ihnen" Ich bin 1950 von Schwanau nach Freiburg, um einen Umschulungslehrgang zu belegen. Hier habe ich den Gesellenbrief als Maurer gemacht. Danach habe ich in Karlsruhe Architektur studiert und in den Semesterferien in der freien Wirtschaft gearbeitet, unter anderem in Lahr bei verschiedenen Architekten sowie nach dem Studium bis 1969 im städtischen Hochbauamt in Lahr. Wie kamen Sie dann nach Weil am Rhein" Aufgrund einer Stellenanzeige, in der die Stadt einen Leiter für das Hochbauamt suchte. Ich bewarb mich, Tage später rief der damalige Bürgermeister Dr. Peter Willmann an und teilte mir mit, dass sich der Gemeinderat einstimmig für mich entschieden habe. 26 Jahre bis zu meiner Pensionierung blieb ich dort. Weil am Rhein ist Ihnen zur neuen Heimat geworden" Ja, ich fühle mich dort wohl, wo ich in Frieden und Freiheit leben kann. Eine starke emotionale Bindung habe ich aber nach wie vor zu meinem früheren Heimatort Marienberg. 2003, nach 60 Jahren, stand ich erstmals wieder in dem Zimmer in der Bismarkstraße, in dem ich einst meine Schulaufgaben gemacht hatte. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Sie haben mit Ihren filigranen Zeichnungen auch als Künstler von sich reden gemacht. Zeichnen Sie noch" Immer noch, das Zeichnen ist meine Leidenschaft. Mit sechs Jahren hatte ich in Marienberg das Nachbarhaus gezeichnet, seither begleitete mich die Kunst ein Leben lang. Bleistiftzeichnungen und Radierungen sind nach wie vor die Schwerpunkte meiner künstlerischen Tätigkeit. Ich bin Mitglied im Verein Bildende Kunst in Lörrach und beteilige mich auch dieses Jahr an der neuen Ausstellung „Hülle und Fülle“. n  Die Fragen stellte Siegfried Feuchter