Wien feiert Ringstraße Die Geburt einer Weltstadt

Oliver Class
Grundplan der Wiener Stadterweiterung von 1859, Foto: Wien Museum Foto:  

Gehasst, geliebt, benutzt und neu entdeckt – die Ringstraße in Wien hat ihre ganz eigene Geschichte. Für Wien, aber auch für den Städtebau und die politischen Entwicklungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Jetzt schaut Wien zurück – und nach vorne.

Wien - Hassliebe

„Ich weiß gar nicht, warum die Ringstraße so berühmt ist, ist sie doch eine der hässlichsten Straßen der Welt, nichts als pompöser Kitsch, ein Gebäude scheußlicher als das andere – und doch lieben wir das Ganze“, lässt Thomas Bernhard eine seiner Bühnenfiguren schimpfen und beschreibt mit dieser galligen Tirade die ambivalente Hassliebe der Wiener zu ihrem vielgerühmten Prachtboulevard, der in diesem Jahr sein 150-jähriges Bestehen feiert.

Kaiserlicher Befehl

Am 1. Mai 1865 wurde die Ringstraße von Kaiser Franz Joseph eröffnet, die kaiserliche Kutsche rollte über eine gerade fertig gepflasterte Fahrbahn, an der die meisten Gebäude noch gar nicht errichtet waren: die architektonische Leere wurde durch hölzerne Tribünen und ephemere Festbauten kaschiert. Der Kaiser hatte allerdings auch erst acht Jahre zuvor den Befehl erteilt, das Großprojekt der Umgestaltung der noch mittelalterlich strukturierten Stadt Wien in eine moderne Metropole anzugehen. Es sei „sein Wille“ beginnt das Handschreiben des Kaisers, die Festungsanlagen und Bastionen, welche die innere Stadt Wiens immer noch umschlossen, abzubrechen und den gesamten Bereich der Stadtmauern und des ihm vorgelagerten Freiraums – des sogenannten Glacis – neu zu bebauen.

Es sollte dann fast ein halbes Jahrhundert und bis zum Ende der Habsburgermonarchie dauern, bis das kaiserliche Projekt der Ringstraßengestaltung abgeschlossen wurde. Entstanden war eine 4,4 Kilometer lange und 57 Meter breite Boulevardzone für die Weltstadt Wien, an der zahlreiche Prunkbauten panoramahaft aufgereiht worden waren, welche Kunst, Verwaltung, Wissenschaft und Glaube des alten, aber auch des gegenwärtigen Österreich verkörpern.

Die Künstler der Ringstraße schufen hier gewissermaßen das architektonische Über-Ich des Landes und kreierten den sogenannte Ringstraßenstil, ebenjene architektonische und innenarchitektonische Ästhetik, die für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts richtungweisend war und von der Moderne vehement gehasst wurde.

Ausstellungspanorama

Die Wiener Museen feiern das Jubiläum der Ringstraße mit mehr als einem halben Dutzend Ausstellungen, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit dem Thema beschäftigen. Die umfangreichste Schau ist im Wien Museum am Karlsplatz, das sich selbst am Rande des Rings befindet, zu sehen. Es zeigt die Prachtstraße als die Bühne des aufstrebenden Großbürgertums, jener Gesellschaftsschicht, welche die letzten Jahrzehnte der Donaumonarchie in ökonomischer und kultureller Hinsicht dominierte. Die Auftraggeber, Investoren, Architekten und Künstler, die der Ringstraße ihr Gesicht gaben, sind in einer Porträtgalerie des Fotografen Ludwig Angerer versammelt. Diese „Macher“ trieben mittels Geld, Macht und Kreativität ein gigantisches Projekt voran, das Wien binnen weniger Jahrzehnte zu einer modernen Weltstadt machte.

In Plänen und Zeichnungen werden in der Ausstellung die Projektvorschläge vorgestellt, mittels welchen die Gestaltung des Neuen kontrovers diskutiert wurde. Klar war nur, dass das Alte, sprich die Bastionen und Mauern der Festungsanlagen, weg musste. Jahrelang wurden die Wiener durch das sogenannte Demolieren der Stadtmauern, das Lärm, Schmutz und Verkehrsbehinderungen mit sich brachte, belästigt. Konservative Kritiker wie Franz Grillparzer trauerten „Alt-Wien“ nach, die Wiener raunzten über baubedingte Unannehmlichkeiten, Johann Strauß aber komponierte die fröhliche „Demolirer-Polka“, in der sich der Ärger in beschwingte Eleganz verwandelte.

Stadt-Debatten

Ernste Auseinandersetzungen wurden in den ersten Jahren des Ringstraßenprojekts um die Art der Bebauung geführt. Die Ausstellung zeigt eine Streitschrift der Architekten Eitelberger und Ferstel, die 1860 für das bürgerliche Wohnhaus als eigengenutztes Einfamilienhaus und gegen das in Wien Zinshaus genannte große Mietshaus plädierten. Dagegen brachte der Architektenkollege Ferdinand Fellner im selben Jahr eine spitzzüngige Gegenschrift unter dem Titel „Wie soll Wien bauen?“ heraus, die ein fundiertes Plädoyer für ebenjenes Zinshaus war. Fellners Position sollte sich am Ring durchsetzen, neben den offiziellen Bauten wie Museen, Theatern und Verwaltungsbauten waren das Stadtpalais und das groß dimensionierte Mietshaus die vorherrschenden Bauten des Boulevards.

Das Infrastrukturprojekt

Aus den reichen Beständen der Wienbibliothek speist sich die Ausstellung „Vom Werden der Wiener Ringstraße“ im Rathaus, das selbst zu den spektakulären Bauten des Rings gehört und von dem am Stuttgarter Polytechnikum ausgebildeten Architekten Friedrich von Schmidt gebaut wurde. Errichtet wurde das neugotische Rathaus auf dem Josefstädter Glacis, das im Bebauungsplan der Ringstraße eigentlich als Bauverbotszone ausgewiesen war, da es der kaiserlichen Armee als Parade- und Exerzierfeld diente. Wiens damaliger Bürgermeister Cajetan Felder rang 1870 dem Kaiser den Bauplatz jedoch ab, das Rathaus konnte schließlich 1883 bezogen werden.

Zu dieser Zeit waren nicht nur die meisten Gebäude der Ringstraße fertiggestellt, Wien hatte im Zuge der Gestaltung der Prachtstraße ein großangelegtes Erneuerungsprojekt seiner gesamten städtischen Infrastruktur durchlaufen. Dazu gehörte beispielsweise die Lösung der Wiener Wasserfrage: die mangelhafte Versorgung der expandierenden Stadt mit sauberem Wasser hatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu zahlreichen Typhus- und Choleraepidemien geführt. Grundlegende Abhilfe schaffte die 1873 fertiggestellte Hochquellwasserleitung, die das bis heute bekannt hervorragende Wiener Wasser aus den Raxer Hochalpen in die Stadt führt. Bereits 1888 waren über 90 Prozent der Häuser in Wien an die kommunale Versorgung mit gutem Trinkwasser angeschlossen.

Bühne der Politik

Dass die Ringstraße nicht nur ein städtebauliches Großprojekt war, sondern seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auch einen immanent politisch-symbolhaften Ereignisraum darstellt, zeigt eine Filmcollage, die in der Ausstellung zu sehen ist. Der Ring war die „Via Triumphalis“ des imperialen Österreichs, hier fanden und finden bis heute die 1.-Mai-Demonstrationen der Arbeiterbewegung statt, 1911 feierten auf dem Ring 20 000 Menschen erstmals den Internationalen Frauentag, hier zelebrierte Engelbert Dollfuss den Ständestaat der Zwischenkriegszeit, über den Ring marschierten Hitlers Soldaten und nach 1945 die Truppen der Alliierten.

In der Gegenwart ist die Ringstraße ein Manifestationsort für politischen Protest und sportliche Großereignisse, vor allem aber: sie dient als durchaus lebendige Kulisse des nostalgischen Wien-Tourismus.

Dem historisch interessierten Wien-Besucher sei eine Beschreibung der Ringstraße empfohlen, die als ein 2008 entdeckter Dachbodenfund das Hauptstück der Ausstellung „Wien wird Weltstadt“ in der Österreichischen Nationalbibliothek darstellt. Der Justizbeamte Friedrich Schindler entwarf in einer 66-seitigen Handschrift aus dem Jahr 1866 ein plastisches Bild der damaligen Veränderungen Wiens und bietet eine sehr persönliche, oft amüsante Beschreibung der sich erneuernden Stadt. So schildert er etwa die damals hochmodernen, am Ring aufgestellten „Brunzhäusel“, die als „Linderungsasyl der bierkonsumierenden Menschheit“ errichtet wurden und die „alten ekelhaften Brunzsteine“ ersetzten.

Kunst als Dekor und Ausdruck

Der künstlerischen Innengestaltung der prächtigen Ringstraßenbauten widmet sich das Museum im Unteren Belvedere. Dass gerade Gustav Klimt im Titel der Ausstellung erscheint, ist eher dem Schielen auf Publikumszahlen geschuldet als der Bedeutung Klimts für den Ringstraßenstil. Denn deren Hauptmeister ist zweifelsohne nicht Klimt, sondern der Malerfürst Hans Makart, dessen Werke die Schau auch dominieren. Makart entwickelte einen Mal- und Dekorationsstil, der in seiner üppigen Opulenz zur charakteristischen Ausdrucksform des Repräsentationsbedürfnisses der großbürgerlichen Ringstraßengesellschaft wurde.

Die Schau im Belvedere ist die sinnlich interessanteste der Ringstraßen-Ausstellungen, sie zeigt zahlreiche Beispiele der raffinierten und hochartifiziellen Kunst Hans Makarts, der Gebrüder Gustav und Ernst Klimt und weniger bekannter, aber in ihrer Zeit bedeutender Meister wie Franz von Matsch. Dabei stellen die Arbeiten Matschs einen unerwarteten Höhepunkt der Ausstellung dar, seine Gestaltung des Speisezimmers für das Palais des Ringstraßen-Magnaten Nikolaus Dumba von 1899 markiert die Überwindung des Historismus durch den Jugendstil.

Der jüdische Boulevard

Drei Jahre nachdem der Kaiser den Bau der Ringstraße befohlen hatte, wurde am 18. Februar 1860 ein Gesetz erlassen, dass dem Projekt einen nachhaltigen Impuls gab: erstmals wurden in Österreich Juden „zum Besitze unbeweglicher Güter“ zugelassen, durften also Grund, Boden und Immobilien erwerben. In den folgenden Jahren kauften jüdische Unternehmer eine Vielzahl der an der Ringstraße gelegenen Grundstücke und errichteten auf diesen ihre Stadtpalais, die, benannt nach ihren Bauherren Todesco, Epstein, Schey oder Ephrussi, noch heute vom Engagement jüdischer Bauherren an der Ringstraße zeugen.

Das Jüdische Museum beschreibt in seiner Ausstellung die Ringstraße als einen – so ihr Titel – „Jüdischen Boulevard“. Es wird der Bogen gespannt von der sich nach 1860 entfaltenden Bedeutung des jüdischen Großbürgertums als einem staatstragenden und mäzenatisch aktiven Teil der Gesellschaft der Donaumonarchie bis zu ihrer Verfolgung und Entrechtung nach 1938 sowie der sich daraus ergebenden Problematik der Restituierung ihres von den Nazis und ihren Handlangern geraubten Besitzes.

Der Gegenentwurf

Kein wahrhaft grandioses Projekt kann ohne seinen Gegenentwurf bleiben: dies war im Fall der Ringstraße der Gürtel, jene zweite, äußere Ringstraße Wiens, die in einer Ausstellung des „Waschsalons im Karl-Marx-Hof“ als die „Ringstraße des Proletariats“ vorgestellt wird. Als sich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg in Wien eine sozialdemokratische Gemeindeverwaltung etablierte und das gesellschaftliche Experiment des „Roten Wien“ gewagt wurde, stand die Schaffung gesunder und menschenwürdiger Wohnungen ganz oben auf der Agenda der linken Kommunalpolitiker.

Zwischen 1923 und 1933 entstanden rund 65 000 Wohnungen für Arbeiterfamilien, die bezahlbar waren und der Forderung nach „Licht, Luft und Sonne“ entsprachen. Zahlreiche dieser Arbeiterpaläste befinden sich entlang des Margaretengürtels und zeichnen sich wie der Reumannhof durch ihre beeindruckende Größe und hohes künstlerisches Niveau der Bauausführung aus. Die Ausstellung lädt dazu ein, diesen Boulevard der Moderne als Antithese zur Ringstraße zu entdecken. Beide städtebaulichen Ensembles haben europäische Kunst- und Kulturgeschichte geschrieben, in ihrer architektonischen Präsenz sind sie großartige

Denkmäler der Moderne und lebendige Freiluftmuseen einer europäischen Metropole.

„Der Ring. Pionierjahre einer Prachtstraße“, Wien Museum, bis zum 4.Oktober. www.wienmuseum.at

„Vom Werden der Wiener Ringstraße“, Wienbibliothek im Rathaus, bis zum 13. November. www.wienbibliothek.at

„Wien wird Weltstadt. Die Ringstraße und ihre Zeit“, Österreichische Nationalbibliothek, bis zum 1. November. www.onb.ac.at

„Klimt und die Ringstraße“, Unteres Belvedere, bis zum 11. Oktober. www.belvedere.at

„Ringstraße - Ein jüdischer Boulevard“, Jüdisches Museum Wien, bis zum 4. Oktober. www.jmw.at

„Die Ringstraße des Proletariats. Ein Gegenentwurf“, Waschsalon Karl-Marx-Hof, bis zum 20. Dezember. www.dasrotewien-waschsalon.at

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