Badenweiler Wir sind das, was wir wissen

Weiler Zeitung
Rüdiger Safranski schaut Raoul Schrott beim anschließenden Signieren über die Schulter. Foto: Dorothee Philipp Foto: Weiler Zeitung

Literatur: Badenweiler Literaturtage mit Safranski und Raoul Schrott

Von Dorothee Philipp

Badenweiler. Es scheint, dass Rüdiger Safranski noch kein Thema der Badenweiler Literaturtage so Spaß gemacht hat wie das der jetzigen, sechsten Auflage: „Literatur und Mythos“. Wie er verschmitzt ans Rednerpult tritt und sofort hineingerät in den Sog der alten Geschichten, die seit Jahrtausenden die Menschheit umtreiben und in immer neuen Gestalten und Ländern wieder auftauchen. Das ist das Wesen des Mythos, erklärt er zum Beginn des ersten Abends, zu dem er Raoul Schrott eingeladen hat.

Mythen wirken sehr mächtig und unterschwellig im kulturellen Gedächtnis, sagt Safranski. Als Beispiel führt er Ödipus an. Um dem Erzählen in den Ohren des Publikums mehr Raum zu schaffen, hat Safranski auch den Hang-Spieler Tilo Wachter eingeladen, der mit aus weiten Sphären kommenden Klängen sofort eine hellwache Stille erzeugt.

Raoul Schrott ist der Richtige, um die Migrationsgeschichte der mythischen Stoffe nachzuzeichnen, er ist in den alten Kulturen zu Hause, kennt Ländernamen von sagenhaftem Klang, hat Homer, Hesiod und das Gilgamesch-Epos nachgedichtet und sich in seiner Habilitationsschrift mit poetischen Strukturen von der Antike bis zum Dadaismus auseinandergesetzt. Jetzt tritt er ans Rednerpult mit einem gemütlichen, tirolerisch gefärbten „Grüß Gott alle zusammen“. Doch weiter kein Smalltalk, es geht gleich mitten hinein: „Wir sind nicht das, was wir haben, sondern das, was wir wissen“, ein Credo, das den ganzen Abend durchziehen wird.

Zufällige Entdeckungen abseits des Gesuchten

Dreh- und Angelpunkt seines Vortrags ist die charmante Geschichte der drei Prinzen von Serendib, eine 2000 Jahre alte Erzählung aus dem Orient, die bis in die heutige Zeit in vielfacher Gestalt überlebt und den Begriff „Serendibity“ generiert hat. Serendibity meint zufällige Entdeckungen abseits des ursprünglich Gesuchten, die sich als bedeutsam erweisen. Die Entdeckung Amerikas zum Beispiel.

Doch erst bringt Schrott einen verblüffenden Vergleich: Texte sind wie Viren. Sie sind „auf den Stoffwechsel des Wirts angewiesen“, können infektiös wirken. Und sie verändern ihre Gestalt, passen sich an Zeit und Kolorit der jeweiligen Umgebung an. Der „Evolutionsbaum“ der Serendib-Geschichte ist ein einziges Gewimmel von tausenderlei Figuren, und doch lässt sich der Kern immer wieder herausschälen: Drei Königssöhne sind auf dem Weg in die Fremde, wo sie Lebenserfahrung sammeln sollen. Ein Hirte, den sie dabei antreffen, sucht nach einem entlaufenen Kamel, und die drei können ihm das Tier und seine Last genauestens beschreiben, obwohl sie es nicht gesehen haben. Sie haben die Spuren gelesen. Figuren kommen in die Geschichte hinein, andere verschwinden, mal wird die Erzählung zur Rahmenhandlung, dann wieder in Rahmenhandlungen eingepasst.

Schrott nimmt sein Publikum mit auf einen temporeichen Parforce-Ritt durch die Länder und Kulturen, der fast atemlos macht. Nisami, Firdausi, – „die Namen müssen Sie sich nicht alle merken“ – Sindbad, der im dänischen Norden wieder auftaucht und im Gewand der Hamlet-Geschichte daherkommt, Johann Wetzel, der Basler Buchhändler, der als Scharnier den Stoff in die nächsten Jahrhunderte weitergereicht hat, bis er irgendwann sogar zum Genre Kriminalroman wurde. „Und dann hab ich’s auch gleich“, meint Schrott nach über einer Stunde launig und setzt zu einem Exkurs über die Kunst der Schlussfolgerung an. Das gäbe Stoff für einen ganzen Abend.

Der Beifall prasselt. Safranski will noch, dass Schrott aus seinen Gedichten liest und verzichtet deswegen auf das angekündigte Künstlergespräch. Die beiden Gedichte, die den Abend beschließen, schlagen einen ganz anderen Ton an: Ein junger Flüchtling, der in der Wüste verdurstet und verhungert ist; die verschleierte Frau, die sich als Übersetzerin über die deutschen Wörter mit zwei Bedeutungen Gedanken macht. Weg. Schloss. Bank. Eine sensible Sprache mit Anklängen von Reimen und schwebenden Bezügen zu Goethes West-Östlichem Divan.   Weitere Infos unter www.badenweiler-literaturtage.de. Am Sonntag findet zudem in der evangelischen Pauluskirche um 9.30 Uhr mit Pfarrer Rolf Langendörfer ein Literaturgottesdienst zum Thema „Schöpfung und Urknall“ statt.

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