War der im internationalen Vergleich eingeschlagene defensive „Schweizer Weg“ der richtige?
Wir zahlten mit unserem Weg einen weniger hohen Preis in wichtigen Lebensbereichen als andere Länder. In Deutschland beispielsweise sind Schulen schon seit längerem geschlossen. Das hat Folgen. Wir sind dagegen vergleichsweise schonend vorgegangen.
Was sind die größten Herausforderungen bei diesem Vorgehen?
Uns fehlt die Schablone, es gibt keine verbindlichen Referenzpunkte. Wir hatten noch nie eine solche Krise. Deshalb fehlt uns ein durchdachter Phasenplan. Wir müssen laufend selber Konzepte entwickeln. Das ist anspruchsvoll und muss für künftige Krisen auf institutioneller Ebene besser gelöst werden. Vermutlich braucht es ein enger integriertes Gremium im Krisenmanagement zwischen Bund und Kantonen. Das kann man nicht ad hoc organisieren.
Waren die Kantone überfordert?
Nein, ich finde es bewundernswert, dass sich das Gesundheitswesen als wehrhaft erwiesen hat. Die Versorgungsstrukturen konnten den Patientenzustrom auffangen – sowohl in der ersten als auch in der zweiten Welle.
Im Herbst gab es aber viele Kritiker, die den kantonalen Flickenteppich, also den unterschiedlichen Umgang mit der Krise, kritisierten. Was entgegnen Sie?
Die Unterstellung, dass unterschiedliche Regeln grundsätzlich ein Problem seien, ist falsch. Es macht durchaus Sinn, dass Kantone eigenständig handeln und eigene Schwerpunkte setzen. Dass im August in Genf strengere Maßnahmen ergriffen wurden als in Uri, war richtig. In der Westschweiz stiegen die Fallzahlen, in der Innerschweiz dagegen gab es kaum Fälle. Dieses unterschiedliche Handeln war also plausibel.
Bis in den Spätherbst hinein, als überall wieder mehr Fälle verzeichnet wurden?
Ich akzeptiere die Kritik, wonach nach den Herbstferien schneller hätte gehandelt werden müssen. Da war das Virus wieder ein akutes Problem des ganzen Landes. Es hätte schon damals stärkere nationale Einschränkungen gebraucht. Die Maßnahmen kamen aber zu zögerlich. Das liegt zum Teil in der Verantwortung der Kantone, von denen sich einige gegen Verschärfungen wehrten. Aber auch der Bund hielt sich zu dieser Zeit sehr zurück, das Heft wieder in die Hand zu nehmen.
Geriet die Schweiz dadurch bei der Krisenbekämpfung im internationalen Vergleich in Rückstand?
Ländervergleiche sind generell schwierig. Jedes Land hat spezielle Voraussetzungen, Entwicklungen und Problemstellungen. Zudem sind wir noch lange nicht am Ende der Krise. Für den „final count“ ist es noch zu früh. Trotzdem sehe ich, dass die zentralistisch geführten Staaten wie Frankreich oder Italien nicht weniger Probleme, nicht weniger hohe Fallzahlen, nicht weniger Verstorbene haben, sondern eher mehr.
Herr Engelberger, zum Schluss ein kleiner Ausblick. Was hoffen Sie: Wo wird die Schweiz in einem Jahr in Sachen Bewältigung der Corona-Krise stehen?
Ich hoffe, dass wir dann sagen können, dass wir dank erfolgreicher Impfkampagne einen Winter ohne Pandemie hinter uns bringen konnten. Das Coronavirus wird wohl auch in einem Jahr noch da sein, aber hoffentlich die Gesundheitskrise nicht mehr.