Binzen Aus dem Status der Unmündigkeit herauskommen

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 Foto: Weiler Zeitung

Vortrag: Marcus S. Kleiner sieht Streamingdienste als Gefahr für die Demokratie / Morgen kommt er ins Reforum

Binzen - Die neueste Serie oder den Lieblingsfilm zu einer beliebigen Zeit anschauen – Streamingportale machen dies möglich und haben in Corona-Zeiten deutlich an Zuschauern gewonnen. Zugleich aber bedrohen sie die Demokratie, sagt Marcus S. Kleiner. Der Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft hält im Binzener Reforum einen Vortrag. Im Gespräch mit unserer Zeitung erklärt er, welche Gefahr Netflix, Amazon Prime & Co. seiner Meinung nach darstellen.

Herr Kleiner, in Ihrem Buch „Streamland“ vertreten Sie die These, Streamingdienste würden eine Gefährdung für die Demokratie darstellen. Wie kommen Sie zu diesem Schluss?

Wer auf einem Streamingportal etwas anschaut, der macht sich in den wenigsten Fällen bewusst, dass seine Daten in jeder Sekunde erhoben werden. Vielen ist es aber auch vollkommen egal. Hauptsache, sie werden unterhalten. Jeder Streamingnutzer – und ich gehöre selbst dazu – lässt sich bereitwillig selbst ausbeuten, indem sein Nutzerverhalten analysiert wird und er anhand dessen basierend auf einem Algorithmus weitere Sehvorschläge erhält. Das verändert meinen Zugang zu Filmen, Serien und Dokumentationen. Die Streamingdienste sind insofern perfekte Verführungsmedien und halten die Konsumenten im Status der Unmündigkeit.

In Bezug auf die sogenannten sozialen Medien ist häufig von Filterblasen die Rede: Auf der Basis von Likes werden Nachrichten zugeschickt, die dem eigenen Weltbild entsprechen. Sehen Sie Streamingdienste quasi als Äquivalent hierzu?

Ja, wir haben hier die gleiche Gefahr wie bei den „sozialen Medien“. Die Abonnenten werden an die Streamingdienste gebunden, denn auch wenn ich im Prinzip jeden Monat meinen Streaminganbieter wechseln kann, unterstütze ich ja dann immer wieder das gleiche Geschäftsmodell. Bisher wurde immer nur bei Facebook & Co. hingeschaut, also im Bereich Information. Ich schaue mit meinem Buch jetzt auch auf den Unterhaltungssektor. Und hier ist Streaming das Leitmedium der Gegenwart.

Sie sprechen von einer Gefahr. Aber wenn ein Streaminganbieter wie Netflix einem Filmemacher wie Martin Scorsese ein Multi-Millionen-Dollar-Budget für „The Irishman“ gibt, den kein Hollywood-Studio finanzieren wollte, ist das dann nicht eher gut für die Vielfalt im Filmgeschäft?

Hier sprechen wir von den Inhalten, nicht aber von der Unterhaltungsindustrie Streaming selbst. „The Irishman“ etwa lief nur kurze Zeit im Kino, um sich für die Oscar-Verleihung zu qualifizieren, und war dann exklusiv bei Netflix zu sehen. Um solche Filme zu ermöglichen, braucht man zunächst einmal die notwendigen Gelder. Das heißt auch, dass kleinere Anbieter mit weniger Geld dann keine Chance mehr auf dem Markt haben. Alles hat somit auch seine Kehrseite und dreht sich letzten Endes darum, durch den Konsum die Abonnenten stärker an sich zu binden.

Warum kann das „lineare Fernsehen“ hier bisher so wenig entgegensetzen?

Die öffentlich-rechtlichen Sender begreifen sich noch nicht so stark als Streaminganbieter. Sehr häufig werden Inhalte heutzutage nicht mehr linear wahrgenommen. Es ist etwa für viele Menschen unwahrscheinlich, dass sie etwa um Punkt 20 Uhr zuhause sind, um die „Tagesschau“ anzusehen. Man schaut sich Sendungen in der Mediathek an, und jeder trägt ein Handy mit sich herum, auf dem er mobil Inhalte dann ansehen kann, wenn er das möchte. Die Fernsehsender müssen ihr Programm neu definieren.

Inwiefern?

Vom vorgegebenen Programm, dass die Programmverantwortlichen in den Öffentlich-Rechtlichen zusammengestellt haben, und das ein „Wir-kuratiertes Programm“ darstellt, ist der Weg zunächst über das Privatfernsehen mit seiner Du-Orientierung, etwa mit dem Musiksender VIVA, gegangen. Hier sollten alle Zuschauer in ihrem Alltag abgeholt werden. Die Streaming-Anbieter gehen hier noch einen Schritt weiter: Es gibt kein „Wir-kuratiertes Programm“ und kein „Du-orientiertes Programm“, sondern im Mittelpunkt steht immer nur die eigene Person.

Was sollte Ihrer Ansicht nach jeder Einzelne tun, um hier gegenzusteuern?

Mir ist ganz wichtig, dass ich nicht sage: Es ist alles schlecht und ich habe die Lösung. Das wäre wenig seriös. Ich will zunächst eine Dystopie (eine negative Zukunftsvision, Anmerkung der Redaktion) entwerfen, das heißt, die aufgeworfenen Fragen sollen so unangenehm wie möglich sein. Anstelle des Mottos „einschalten, um abzuschalten“ will ich die Leser zu Fragen an sich selbst ermuntern: Will ich das Geschäftsmodell der Streaminganbieter unterstützen? Wie sieht es mit der Datentransparenz aus? Mein Kernpunkt ist, dass ich eine Veränderung in der Fragestellung fordere: Infrastrukturelle Fragen wie etwa, ob wir ein 5G-Netz haben, sind nicht entscheidend. Entscheidend ist immer die Frage nach der Kultur. Die Digitalpolitik muss hier umdenken.

Das Thema ist komplex. Kann jemand auch ohne Vorwissen, einfach als interessierter Streamingnutzer, dazu kommen?

Natürlich. Ich richte mich keineswegs nur an Fachpublikum. Auch wer einfach mal tiefer in die Materie eintauchen will, ist willkommen.

Weitere Informationen: Der Vortrag von Marcus S. Kleiner findet morgen, Donnerstag, im Reforum, Am Dreispitz 6, in Binzen, statt. Beginn ist um 18.30 Uhr (Einlass ab 18 Uhr). Der Eintritt ist kostenlos. Aufgrund der begrenzten Teilnehmerzahl und der Corona-Regeln ist eine Anmeldung unter www.reforum.de notwendig.

Marcus S. Kleiner ist Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der SRH Berlin University of Applied Sciences. Freiberuflich arbeitet er als Medienberater, Texter und Hörspielautor. Seit 2015 ist er für den SWR als Radio-Medienexperte tätig.

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