Die öffentlich-rechtlichen Sender begreifen sich noch nicht so stark als Streaminganbieter. Sehr häufig werden Inhalte heutzutage nicht mehr linear wahrgenommen. Es ist etwa für viele Menschen unwahrscheinlich, dass sie etwa um Punkt 20 Uhr zuhause sind, um die „Tagesschau“ anzusehen. Man schaut sich Sendungen in der Mediathek an, und jeder trägt ein Handy mit sich herum, auf dem er mobil Inhalte dann ansehen kann, wenn er das möchte. Die Fernsehsender müssen ihr Programm neu definieren.
Inwiefern?
Vom vorgegebenen Programm, dass die Programmverantwortlichen in den Öffentlich-Rechtlichen zusammengestellt haben, und das ein „Wir-kuratiertes Programm“ darstellt, ist der Weg zunächst über das Privatfernsehen mit seiner Du-Orientierung, etwa mit dem Musiksender VIVA, gegangen. Hier sollten alle Zuschauer in ihrem Alltag abgeholt werden. Die Streaming-Anbieter gehen hier noch einen Schritt weiter: Es gibt kein „Wir-kuratiertes Programm“ und kein „Du-orientiertes Programm“, sondern im Mittelpunkt steht immer nur die eigene Person.
Was sollte Ihrer Ansicht nach jeder Einzelne tun, um hier gegenzusteuern?
Mir ist ganz wichtig, dass ich nicht sage: Es ist alles schlecht und ich habe die Lösung. Das wäre wenig seriös. Ich will zunächst eine Dystopie (eine negative Zukunftsvision, Anmerkung der Redaktion) entwerfen, das heißt, die aufgeworfenen Fragen sollen so unangenehm wie möglich sein. Anstelle des Mottos „einschalten, um abzuschalten“ will ich die Leser zu Fragen an sich selbst ermuntern: Will ich das Geschäftsmodell der Streaminganbieter unterstützen? Wie sieht es mit der Datentransparenz aus? Mein Kernpunkt ist, dass ich eine Veränderung in der Fragestellung fordere: Infrastrukturelle Fragen wie etwa, ob wir ein 5G-Netz haben, sind nicht entscheidend. Entscheidend ist immer die Frage nach der Kultur. Die Digitalpolitik muss hier umdenken.
Das Thema ist komplex. Kann jemand auch ohne Vorwissen, einfach als interessierter Streamingnutzer, dazu kommen?
Natürlich. Ich richte mich keineswegs nur an Fachpublikum. Auch wer einfach mal tiefer in die Materie eintauchen will, ist willkommen.
Weitere Informationen: Der Vortrag von Marcus S. Kleiner findet morgen, Donnerstag, im Reforum, Am Dreispitz 6, in Binzen, statt. Beginn ist um 18.30 Uhr (Einlass ab 18 Uhr). Der Eintritt ist kostenlos. Aufgrund der begrenzten Teilnehmerzahl und der Corona-Regeln ist eine Anmeldung unter www.reforum.de notwendig.
Marcus S. Kleiner ist Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der SRH Berlin University of Applied Sciences. Freiberuflich arbeitet er als Medienberater, Texter und Hörspielautor. Seit 2015 ist er für den SWR als Radio-Medienexperte tätig.