Binzen Lehren aus der Vergangenheit ziehen

Weiler Zeitung

Gedenken: Zugunglück von Markdorf jährt sich zum 80. Mal / 98 Menschen sind umgekommen

Das Zugunglück von Markdorf, das vor 80 Jahren, am 22. Dezember 1939, geschah, ist in vielen Familien, die dabei Angehörige verloren, noch sehr präsent. Dies zeigte sich beim Gedenken in der Binzener Kirche, die fast vollbesetzt war.

Von Jutta Schütz

Binzen. Zum Gedenken gekommen waren auch mehrere Überlebende des Unglücks, die damals zwischen fünf und zehn Jahre alt gewesen waren und sich zum Teil noch sehr gut an den Hergang des schrecklichen Ereignisses erinnern konnten (wir berichten dazu noch gesondert).

Gäste aus Markdorf

Pfarrer Dirk Fiedler, Pfarrer Jochen Debus aus Eimeldingen, Binzens Bürgermeister Andreas Schneucker und Weils Oberbürgermeister Wolfgang Dietz begrüßten zudem eine Delegation aus Markdorf und Kluftern mit Bernd Caesar vom Arbeitskreis Heimatgeschichte Kluftern, Klufterns Ortsvorsteher Michael Nachbaur, Beatrice Popp und Wolfgang Jägle aus dem dortigen Ortschaftsrat, Dietmar Bitzenhofer, dem stellvertretenden Bürgermeister von Markdorf und Markdorfs Hauptamtsleiter Klaus Schiele.

Als Enkel des bei dem Unglück ums Leben gekommenen Lokomotivführers Karl Gemple, der den Personenzug mit Evakuierten aus dem Markgräflerland hätte nach Hause fahren sollen, hielt Alexander Grass, der in Müllheim lebt, eine Rede. Zu den Gästen gehörten auch Efringen-Kirchens Bürgermeister Philipp Schmid, sein Amtskollege aus Fischingen, Axel Moick, sowie Ortsvorsteher und Gemeinderäte. Musikalisch wurde die Feier durch Flötistin Christine Braun und Organistin Margot Neubert würdig gestaltet.

Unachtsamkeit als Ursache

„Gottesdienste nehmen das, was war und das, was heute ist, in den Blick“, so Fiedler. Wenn man sich nicht an Ereignissen aus der Vergangenheit orientiere, dann lerne man heute nicht, mehr Achtsamkeit bei ähnlichen Ereignissen zu zeigen, folgerte er aus den Gründen, die zu dem Unglück geführt hatten.

Zwei Fahrdienstleiter seien am 22. Dezember 1939 mehr damit beschäftigt gewesen, ihre Parteikarriere bei der SA voranzutreiben, als sich ihren Aufgaben bei der Sicherung des Bahnverkehrs zu widmen. Ohne deren Fehler und ohne die gleichzeitigen Kriegshandlungen und Kriegsvorschriften hätte das Unglück, bei dem 98 Menschen aus Binzen und Weil am Rhein, aus Haltingen und Fischingen, aus Welmlingen und Egringen sowie Heizer und Lokführer starben, vermutlich nie stattgefunden.

Lesung aus der Chronik

Fiedler verlas aus der Binzener Chronik die komplette Textstelle, die sich mit dem Unglück und dessen Ursachen beschäftigt. „Da wo wir sitzen, standen am zweiten Weihnachtstag 1939 32 Särge, die toten Kinder hatte man zu ihren Eltern gelegt“, erinnerte der Pfarrer. Achtsamkeit sei von jedem gefordert, „denn Geschichte kann sich wiederholen, es kann nicht sein, dass Parolen von damals heute wieder salonfähig werden“, spielte Fiedler insbesondere auf politische Äußerungen der AfD an.

Unglücksnacht begann früh

Pfarrer Debus stellte fest, dass die Nacht zum Zeitpunkt des Unglücks in Markdorf und dem am gleichen Tag geschehenen Eisenbahnunglück in Genthin bei Magdeburg im übertragenen Sinn schon am 30. Januar 1933 mit der Machtergreifung Hitlers begonnen habe. „Diese Nacht war erst sechs Jahre später, 1945, zu Ende.“

Andreas Schneucker schilderte, dass sich durch die Aufarbeitung des Unglücks, viele Menschen aus Markdorf und Kluftern und dem Markgräflerland auch bei verschiedenen Gedenkfeiern näher gekommen sind. In Zusammenarbeit mit Weils Oberbürgermeister Wolfgang Dietz und den Gemeinderäten habe man nun diese Veranstaltung für die Familien ausrichten können, deren Leben noch heute vom Unglück überschattet sind.

Angehöriger berichtet

Über die Planung kam auch der Kontakt zu Alexander Grass zustande. Dessen Mutter Ruth Gemple aus Radolfzell verlor ihren Vater Karl Gemple acht Tage vor ihrem 14. Geburtstag, weil dieser sich angeboten hatte, für einen Lokführer-Kollegen einzuspringen, der Weihnachten zu Hause bei seiner Familie sein wollte, berichtete Grass. Grass‘ Großmutter und seine Mutter habe das traumatische Ereignis nie verlassen, seine Mutter sei erst spät in der Lage gewesen, die Stelle in Lipbach bei Kluftern aufzusuchen, wo das Unglück geschah und heute ein Gedenkstein steht. Grass selbst machte sich auf Spurensuche, führte viele Gespräche mit Menschen, die Erinnerungen an das Unglück und auch an die vielen Helfer hatten. „Ich konnte schließlich bei meinem Großvater und dem, was ihn sozial ausgemacht hat, ankommen“, stellte Grass fest. Als Fazit aus den Unglücksursachen habe er gelernt, dass politische Ereignisse und Karrierewünsche, dazu führen können, „dass man sich nicht mehr auf seine eigentlichen Aufgaben konzentriert“.

Sich erinnern und lernen

Das Markdorf-Unglück sei „in vielen Köpfen noch präsent“, konstatierte Wolfgang Dietz. Sich zu erinnern bedeute auch, Lehren zu ziehen, stellte er fest. Es sei schwer, sich in eine Zeit zurückzuversetzen, in der Informationen mangels Kommunikationsmöglichkeiten nur langsam verbreitet und auch unterdrückt wurden, „ein Parteiapparat vorschrieb, wo man sich aufzuhalten hatte“ und eine gleichgeschaltete Presse nicht kritisch berichten durfte.

Damals wie heute aber könne jeder mitfühlen, wie es ist, so plötzlich geliebte Menschen zu verlieren, war Dietz wichtig mitzuteilen. Sich an Ereignisse zu erinnern, sei an ihn persönlich auch ein Auftrag, dass Menschen in Frieden leben können, schloss Oberbürgermeister Dietz seine Rede.

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