Efringen-Kirchen Eine überwältigende Düsternis

Dorothee Philipp

Konzert: Pianist Stefan Abels widmet seinen Auftritt dem Musiker Ervin Nyíregházi.

Kleinkems - Ein „Mentor“, den er nie persönlich kennengelernt hat, hat den Pianisten Stefan Abels künstlerisch stark geprägt. Dem vergessenen Genie Ervin Nyíregházi widmete Abels das jüngste Konzert in der Kulturscheune Kleinkems mit Tondokumenten, Zitaten von Zeitgenossen, Originalstücken und sogar einem eigenen Stück, das er als Hommage an den 1987 verstorbenen Künstler komponiert hat.

Eine Langspielplatte war es, die unter Abels‘ Kommilitonen kursierte und die man sich weitergereicht habe mit den Worten: „Hast du sowas schon mal gehört?“ Und vom Klavierprofessor kam der Rat: „Bitte nicht nachmachen.“ Was er damit meinte, verdeutlichte Abels mit einer Originalaufnahme von 1973, einem illegalen Mitschnitt auf Kassette aus einem Konzert in San Francisco, der aufgrund glücklicher Umstände erhalten blieb und zur Legende wurde. Franz Liszts „Marchant sur les flots“ wird dabei unter den Händen von Nyíregházi zu einer atemberaubenden Naturgewalt mit wuchtigen Oktavschlägen, grummelnden Basstremoli und wie Blitze dreinfahrenden chromatischen Skalen. In der Tat unerhört.

Die Vita Nyíregházis ist die eines Wunderkinds, das schon mit 13 Jahren alle pianistischen Techniken perfekt beherrschte. Über seinen Lehrer, den Liszt-Schüler Frederic Lamond, kam er in direkte Berührung zum Werk des legendären Meisters. Ein Auftritt des 17-Jährigen in der Carnegie-Hall war der Startschuss für eine beispiellose Karriere, der Nyíregházi jedoch auf Dauer nicht gewachsen war, wie Abels erläuterte.

Zehnmal verheiratet

Und auch wenn die Lebensgeschichte des zehnmal verheirateten Exzentrikers, der zeitweise unter dem Namen „Pianist X“ und mit Gesichtsmaske auftrat, einiges an pikanten Anekdoten oder bizarren Geschichten bereithält, konzentrierte sich Abels auf das musikalische Vermächtnis des Genies Nyíregházi. Seine eigenen Stücke strahlen eine überwältigende Düsternis aus, die Abels zu der Feststellung veranlasste, dass die Ungarn als das unglücklichste Volk der Welt gelten.

Nyíregházi hat im Laufe seiner 84 bewegten Lebensjahre künstlerisch eine ähnliche Wandlung durchlaufen wie sein „pianistischer Großvater“ Liszt: Er wurde vom „Donnerer“ zum abgeklärten Propheten, wie eine seiner letzten von rund 2000 Kompositionen zeigt: Abels spielte das „Andante Ethereal“ als Gegenstück zum ebenfalls aus dem Spätwerk stammenden „Nuage gris“ von Liszt. „Was hat uns damals so begeistert?“, fragte er sich, um dann zu einem Wort zu finden, das auch theologische Bedeutung erlangt hat: Fülle.

Hommage „De Profundis“

Was nicht gleichzusetzen sei mit laut spielen. Bei den großen Klavierlegenden des 20. Jahrhunderts wie Gilels, Benedetti Michelangeli, Richter oder Horowitz sei ein Rest dieser Fülle noch vorhanden, „aber nie in diesem Übermaß“.

„De Profundis“ hat Abels seine Hommage an Nyíregházi genannt, den Künstler, der in höchste Höhen und tiefste Tiefen vorgestoßen war, ohne je zu einem versöhnlichen Mittelmaß zu finden. Auch Abels setzt, wie Liszt und Nyíregházi, eine energische, in wuchtigen Schlägen agierende Cantus-Linie in ein Umfeld flirrender und grollender Klangteppiche. Und das Publikum spürte: Mit dieser überwältigenden Fülle ist dem modernen Klavier-Konzertbetrieb ein wichtiger Teil abhanden gekommen.

Zum Nachsinnen dann spielte Abels am Ende das „Untitled Piece“ Nyíregházis aus dem Jahr 1985, eine schlicht-schöne Kostbarkeit, in der diese unfassbare Düsternis durch die kleinen aufblitzenden Dur-Lichter nur noch düsterer wird.

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