Grenzach-Wyhlen „Das ist nur schwer zu vermitteln“

Tim Nagengast
Eine erneute Grenzschließung wie im Frühjahr hätte aus Sicht von Grenzach-Wyhlens Bürgermeister Tobias Benz ausschließlich negative Folgen. Unser Symbolfoto entstand am Grenzübergang Inzlingen im vergangenen März. Foto: Tim Nagengast

Interview: Bürgermeister Tobias Benz sieht die ab heute Abend geltende Ausgangsbeschränkung kritisch

Grenzach-Wyhlen - Ab dem heutigen Freitag gilt im Landkreis Lörrach eine nächtliche Ausgangssperre zwischen 21 und 5 Uhr. Grenzach-Wyhlens Bürgermeister Tobias Benz sieht diese Beschränkung durchaus kritisch. Dies vor allem im Kontext zur sich aus der Grenzlage ergebenden Sondersituation der Doppelgemeinde, wie er im Interview mit unserer Zeitung bekundet.

Hintergrund für die Ausgangsbeschränkungen ist die am Mittwochabend erlassene erweiterte Allgemeinverfügung des Landratsamtes, weil der Kreis seit mehr als drei Tagen in Folge eine Sieben-Tages-Inzidenz von 200 Neuinfektionen überschritten hat.

Herr Benz, im Zuge der Coronapandemie sind Sie in der Öffentlichkeit nicht gerade als „Hardliner“ in Erscheinung getreten, sondern haben stets „pragmatische Lösungen“ gefordert. Wie stehen Sie zur ab heute Abend geltenden Ausgangssperre?

Ich bin in der Tat skeptisch, ob die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen die erhoffte Wirkung entfalten. In Großstädten kann ich diese Maßnahme nachvollziehen, um unerlaubte nächtliche Menschenansammlungen zu verhindern. Aber in einer ländlich strukturierten Gemeinde halte ich die Wirksamkeit doch für sehr begrenzt.

Nicht die härteste Maßnahme ist grundsätzlich die beste, sondern die, die zielgenau dort ansetzt, wo Infektionsfälle auftreten, besonders gefährdete Gruppen schützt und die vor allem auch die sozialen und wirtschaftlichen Folgen berücksichtigt. Wir haben im Frühjahr etwa, noch lange vor dem Land, per Allgemeinverfügung die Besuche in unseren Pflegeheimen beschränkt, um die Risikogruppen zu schützen.

Kritiker sprechen von einem Grundrechtseingriff.

Die Ausgangsbeschränkungen sind, um es zu präzisieren, sogar ein massiver Grundrechtseingriff. Ich denke, es hätte zielgenauere Maßnahmen gegeben, die man vorher hätte ergreifen müssen von Seiten der Landesregierung.

Das heißt, wer unmittelbar an der Grenze wohnt – etwa am Hornacker oder in der Kraftwerksiedlung –, der kann theoretisch auch abends nach 21 Uhr noch spazieren gehen, weil unsere Schweizer Nachbarn derart strenge Regelungen bisher nicht kennen?

Mit diesem Beispiel bringen Sie ein Problem auf den Punkt: die höchst unterschiedlichen Vorgehensweisen, Verordnungen und Regelungen im Umgang mit der Coronapandemie. Ich persönlich halte es für nur schwer vermittelbar, dass einerseits für unsere Bürger Ausgangsbeschränkungen gelten, andererseits aber der Einkaufstourismus weiterläuft und man nur wenige Schritte über den Rhein in die Kantone Basel-Land und Aargau spazieren muss, um sich ins Straßencafé zu setzen oder einen Weihnachtsmarkt zu besuchen. Neben der Frage der Wirksamkeit einer Ausgangssperre erhöht dies nicht gerade die Akzeptanz bei den Menschen.

Also sollte Deutschland wie im Frühjahr die Grenze zur Schweiz schließen?

Das wäre für mich der falsche Weg. Eine Lehre des Lockdowns im Frühjahr war, dass wir im Dreiländereck die Pandemie nur gemeinsam bekämpfen können und Grenzschließungen wenig bewirken, da es viele Ausnahmen durch Pendler und Familienbesuche gibt. Dies zeigt auch der Umstand, dass andere Corona-Hotspots in Baden-Württemberg wie Pforzheim, Rottweil oder Heilbronn nicht grenznah liegen.

Aber die aktuelle Entwicklung zeigt doch, dass der bisherige Teil-Lockdown nicht dazu geeignet scheint, die Fallzahlen zu senken. Was wäre denn Ihr Rezept?

Die sinn- und wirkungsvollen Schutzmaßnahmen müssen im Alltag konsequent umgesetzt werden. Um aber die Köpfe und Herzen der Bürger zu erreichen, müssen diese Maßnahmen nachvollziehbar sein. Aktuell sehe ich aber eine große Verunsicherung bei vielen Menschen. Tragisch und ein Versäumnis der Politik ist außerdem, dass es derzeit eben nicht gelingt, Risikogruppen adäquat zu schützen, wie die stark gestiegenen Todeszahlen gerade in dieser Bevölkerungsgruppe zeigen.

Worauf führen Sie das zurück?

Es fehlt eine klare, stringente Strategie zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Stattdessen werden von Bund und Land Maßnahmen beschlossen, die dann wieder eine Halbwertszeit von wenigen Tagen, manchmal sogar nur Stunden haben. Dies zermürbt die Menschen und verringert die Akzeptanz.

Was schlagen Sie stattdessen vor?

Statt einer allgemeinen Verschärfung der Bestimmungen sollten wir zielgenauer dort agieren, wo viele Infektionen stattfinden. Dort dann aber mit voller Konsequenz.

Was bedeutet für Sie „zielgenauer“? Man kann ja wohl kaum für jede einzelne Gemeinde eine maßgeschneiderte, der lokalen Inzidenz angepasste Corona-Regelung erlassen.

So meinte ich das auch nicht. Wir müssen stattdessen an anderen Knöpfen drehen. Ein Beispiel: Schauen Sie sich doch einmal die Regionalzüge und Busse im Berufs-, Schüler- und Pendlerverkehr an. Diese sind sehr voll, teilweise stehen die Menschen dicht gedrängt. Hier bedarf es dringend zusätzlicher Waggons, Züge und Busse, um die Abstände einzuhalten zu können. Außerdem müssen wir den Zugang zu Antigen-Schnelltests verbessern, um schnell testen zu können und vulnerable Gruppen zu schützen. Ich bin außerdem für die zwingende Vorgabe zum Einsatz von FFP-1- Schutzmasken anstelle von Schals und selbstgenähten Mund- und Nasenbedeckungen, deren Wirkung verglichen mit den medizinischen Produkten deutlich schlechter ist. An Risikogruppen sollten FFP-2-Schutzmasken endlich kostenlos abgegeben werden. Auch hat man es seit Beginn der Pandemie versäumt, die Gesundheitsverwaltungen auszubauen, konsequent zu digitalisieren und die Schulen fit zu machen für den Wechsel zwischen Präsenz- und Fernunterricht.

Und welche Rolle spielt die Corona-App?

Deren technische Möglichkeiten müssen wir in der gegenwärtigen Situation nutzen. Aktuell bewerten wir den Datenschutz aber höher als die Einschränkung von Grundrechten, wie etwa der Bewegungs- oder Berufsfreiheit. Die Corona-App könnte technisch ein wirkungsvolles Instrument zur Bekämpfung der Pandemie sein, deren Möglichkeiten wir aber nur zu einem geringen Teil nutzen. Länder wie Südkorea zeigen uns, wie diese App ein zentraler Bestandteil einer nachhaltigen Eindämmungsstrategie sein kann.

Zum Schluss: Rechnen Sie mit einem erneuten harten Lockdown nach Weihnachten, wie ihn nicht nur die Kanzlerin fordert?

Damit rechne ich fest, da alle bisher ergriffenen Maßnahmen nicht den gewünschten Erfolg hatten und die Lage zunehmend kritisch wird. Auch würde ein Lockdown zwischen den Jahren die wirtschaftlichen Folgen zumindest minimieren. Ich frage mich aber, ob es klug ist, zu den Weihnachtsfeiertagen die Beschränkungen erst noch einmal zu lockern, statt es bei den geltenden Kontaktregeln zu belassen.

Ich befürchte, dass dadurch die Fallzahlen zunächst wieder massiv steigen und wir durch den dann startenden Lockdown bis zum 10. Januar nicht die gewünschte nachhaltige Reduzierung der Fallzahlen deutlich unter das jetzige Niveau erreichen. Tatsache ist, dass die Infektionszahlen dringend gesenkt werden müssen! Ich frage mich auch, wie wir weiter durch den Winter kommen. Weitere flächendeckende Lockdowns alle paar Wochen werden nicht möglich sein. Darüber müssten wir dringend diskutieren und Lösungen suchen, eben im Rahmen einer nachhaltigen Strategie.

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