Grenzach-Wyhlen Das Kreuz des Kardinals

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 Foto: Archiv

Essay über einen Vorfall, der Grenzach-Wyhlen bewegt

Grenzach-Wyhlen - Ein junger Mann spielt im Schulmusical „3 Musketiere“ den Kardinal Richelieu. Um den Hals trägt er dabei ein Kreuz. Sein muslimischer Vater ist außer sich. Das Dorf Grenzach-Wyhlen ist aufgewühlt.

Kein Bild darf seinen Sohn gemeinsam mit dem christlichen Kreuz zeigen. So will es sein Vater. Nur dann darf der junge Mann weiterhin die Rolle des finsteren Kirchenmannes spielen in jenem Musical, in das mehr als 100 beteiligte Lehrer, Schüler und Helfer ein ganzes Jahr lang Liebe, Zeit, Arbeit und etliche Tausend Euro gesteckt haben.

Und der 17-Jährige spielt weiter. Auch an den drei Abenden nach dem Vorfall bei der Premiere, als sein Vater ihn zu sich ins Auto zitiert hatte und gegen ihn handgreiflich geworden sein soll. Der junge Abiturient spielt weiter. Beeindruckend ist seine Erscheinung im roten Gewand, mächtig sein Auftritt, wie er den Kardinal nicht nur mimt. Er singt ihn auch brillant. Im Gesang wie in den Sprechpassagen nutzt er dabei die ganze Bandbreite seiner hervorragenden Stimme. Das Publikum ist begeistert. Der Applaus ist stehend und lang.

Kostüme wurden geschneidert, Rollen einstudiert, Lieder geübt und sogar Fechten gelernt. Die Erwartung war – wie jedes Jahr – groß in Grenzach-Wyhlen. Denn das jährliche Stück der Musical-Company des Lise-Meitner-Gymnasiums, das schaut man sich auch an, wenn die eigenen Kinder vielleicht gar nicht (mehr) dabei sind. Es ist ein wichtiger gesellschaftlicher Anlass.

Vorfall macht sofort im Dorf die Runde

Nicht umsonst gibt es vier Aufführungen in der Hochrheinhalle, dem größten Saal in der 15 000-Seelen-Gemeinde. Rund 750 Stühle stehen da. Pro Aufführung, wohlgemerkt.

Schon während der Pause der zweiten Aufführung diskutieren Gäste in der Sommerhitze der Nacht vor der Hochrheinhalle: „Schon gehört?“ Sogar beim Jubiläumsfest des Musikvereins wird erzählt, hier sei etwas passiert nach der Musical-Premiere: „Wegen des Kreuzes, stimmt das?“

Ja, stimmt. Seither kennt das Dorf nur noch ein Thema.

Das Lise-Meitner-Gymnasium müht sich um Ruhe und Sachlichkeit. Direktor Frank Schührer hofft, dass von dem Musical – eine Herzensangelegenheit der ganzen Schule – irgendwie etwas Positives bleibt: wie die Kinder und Jugendlichen ihre Rollen mit Leben erfüllt haben, wie sie alles gegeben haben, wie mutig sie waren, sich auf die Bühne zu stellen, dass sich der Aufwand gelohnt hat.

„Erpressung“ wird zum „Kompromiss“ umgedeutet

Die Musical-Company leiten Thomas und Ulrike Vogt. Er ist Musiklehrer am Gymnasium und unterrichtet nahezu sämtliche Klassen in diesem Fach. Er hat das Glück, bei seinen Aufführungen auf echte Talente zurückgreifen zu können. Egal, ob den kühnen d’Artagnan, den finsteren Kardinal Richelieu oder dessen Spionin Milady de Winter: Die Jugendlichen singen und spielen durchweg brillant.

Hinter den Kulissen wird nach der Premiere diskutiert, wie es nun weitergehen soll. Sicher ist: Das Musical soll nicht „platzen“. Egal, welche Bedingungen der aufgebrachte Vater des „Kardinals“ stellt. Die Entscheidung muss schnell fallen, will man noch etwas retten. So viel Arbeit, Zeit und Mühe der Kinder und Jugendlichen soll nicht umsonst gewesen sein. Die Musicalleitung willigt daher ein, alle Bilder des Kardinals mit Kreuz abzuhängen und dieses selbst auch nicht mehr als Requisite zu verwenden. So hatte es der Vater gefordert als Bedingung, dass sein Sohn weiterspielen darf. Und eine Bühnenvertretung für „Richelieu“ gibt es nicht. Heißt: kein Kardinal, kein Musical.

Also verschwinden die Fotos: aus dem Internet, aus dem Foyer, sogar aus dem Programmheft. Dafür wird extra eine Doppelseite zusammengeklebt. Heft für Heft. Sämtlichen Forderungen des wütenden Vaters wird entsprochen. Er kommt sogar und kontrolliert die Einhaltung seiner Bedingungen. Und erlaubt seinem Sohn schließlich, weiterhin als Kardinal auf der Bühne zu stehen. Das Musical ist gerettet.

Tags darauf bemühen sich Musical- und Schulleitung darum, von einem „Kompromiss“ zu sprechen. „Wir wurden, so kann man sagen, erpresst“, hatte Thomas Vogt tags zuvor im Gespräch mit unserer Zeitung gesagt. Nur Stunden später wird aus der „Erpressung“ ein „Kompromiss“. Die Formulierungen werden diplomatischer gewählt. Mit jedem Anruf. Mit jeder E-Mail an die Redaktion. Denn es soll etwas Positives bleiben.

Auch eine schriftliche Stellungnahme gibt es am Montag nach dem Ende der letzten Aufführung. Im Namen der „Musical Company“. Der ganzen? „Ja“, bekräftigen Frank Schührer und Thomas Vogt. Man habe mit den am Musical beteiligten Schülern gesprochen, den Zwischenfall professionell aufgearbeitet und sich dazu entschlossen, sich mit dieser Stellungnahme „als Company (...) klar hinter Elvis und seiner Familie zu positionieren“. Es habe, so heißt es in dem auch von unserer Zeitung veröffentlichten Statement, zwar erst einmal einen „großen Schock“ gegeben. Viel schlimmer gewesen sei aber „das enorme negative Echo, welches uns und auch der Familie jetzt von allen Seiten entgegenschallt“. Die Situation sei „keineswegs so dramatisch“ gewesen, „wie es von Presse und Einzelpersonen dargestellt“ wurde. Absender der Stellungnahme? „Die Schüler von sich aus“, bekräftigen Musical- und Schulleitung unisono.

Der Junge hat kein Kreuz zu tragen – basta

Was „die Presse“ getan hat? Das, was ihre Aufgabe ist. Sie hat Hinweise aufgegriffen, recherchiert und diese dargestellt. Denn, um schreiben zu können, „was ist“, muss die Presse nachhaken und Menschen befragen, die etwas zum Thema sagen können: die Musicalleitung, den Bürgermeister, den Schuldirektor. Die Presse kann es nicht allen recht machen. Denn es ist die Pflicht einer Zeitung, auch bei „unangenehmen Dingen“ nicht wegzusehen.

Die Aussagen der Befragten decken sich: Ja, da ist etwas passiert, was in unserem Rechtsstaat nicht akzeptabel ist.

Ein Vater ist erzürnt, weil sein Sohn ein Kreuz um den Hals getragen hat, Schauspiel und Fiktion hin oder her. Mehr als 100 Akteure und ein Jahr Arbeit hin oder her. Der Junge hat kein Kreuz zu tragen – basta. Nicht dieses Symbol, welches ihm als Muslim verboten sei.

Nicht dieses Symbol, unter dem der Familie im Bosnienkrieg in den 1990er-Jahren unsägliches Leid widerfahren ist. Weshalb der Vater seine Heimat verließ und als junger Mann Aufnahme fand in Deutschland. Dieses liberale, tolerante Deutschland, in dem er sich nach eigenem Bekunden sehr wohl fühlt. Das ihn aufgenommen hat. Das ihm eine Zukunft gab.

Staat darf nicht zum Spielball familiärer Konflikte werden

Um es vorweg zu nehmen: Die Trauer, ja, sogar die Wut des Mannes sind unbedingt zu respektieren. Dies gilt auch für seinen Wunsch, dass sein Sohn kein Kreuz tragen darf.

Auf keinen Fall hinnehmen darf ein Rechtsstaat jedoch den Vorfall, die Gewalt, die Drohungen des Vaters in diesem Kontext. Denn was beim Musical geschehen ist, war beileibe keine reine Familienangelegenheit. Nicht bei diesem Ergebnis, nicht bei dieser beträchtlichen Außenwirkung, nicht bei diesen Folgen.

Wer die Geschehnisse vom Premierenabend der „3 Musketiere“ näher betrachtet, stellt fest, dass da etwas vermischt wurde. Er entdeckt unweigerlich Parallelen. Denn auch auf dem Balkan vermischte sich in den 1990er-Jahren so einiges miteinander: Aufgestaute Wut und archaisch anmutende Denkmuster trafen auf territoriale Ansprüche, trafen auf Glaubenskonflikte, trafen auf seit Jahrhunderten offene Rechnungen, trafen auf unterschiedliche Auslegungen der Geschichte, als der Vielvölkerstaat Jugoslawien Stück für Stück zerfiel.

Auf dem Balkan ist es ruhig, doch gelöst sind die Probleme nicht

Zuerst gingen die Slowenen von Belgrads Fahne, dann Kroatien, gefolgt von Mazedonien. Sehr schlimm traf es die Menschen im multiethnischen Bosnien-Herzegowina. Im Bosnienkrieg (1992 bis 1995) und im nahezu zeitgleichen kroatisch-bosniakischen Krieg entlud sich ein über Jahrhunderte aufgestauter Hass zwischen den Volks- und Religionsgruppen. Da wurden gute Nachbarn plötzlich zu Feinden. Familien und gewachsene Strukturen zerbrachen. Es folgten Massaker – Beispiel: Srebrenica – und ethnische Vertreibungen, die erst durch Blauhelmtruppen gestoppt werden konnten.

Nur wenige Jahre später ging es auch im Kosovo los, über dessen Zugehörigkeit beziehungsweise Unabhängigkeit bis heute international gestritten wird.

Die Ruhe auf dem Balkan ist fragil. Die Region ist zwar befriedet, gelöst sind die Konflikte aber noch immer nicht. Welche Gräben die Geschehnisse der vergangenen 25 Jahre in die Gesellschaft auf dem Balkan gerissen haben, kann man dort überall erleben.

Die Wunden sind tief. So tief, dass sie überall und jederzeit aufbrechen können. Nicht nur auf dem Balkan, sondern auch in Mitteleuropa. Sogar im Kontext eines Musicals. Sogar innerhalb einer Familie, wo der Vater plötzlich auf den Sohn losgeht.

Wer sich bedingungslos „solidarisiert“, der duckt sich einfach weg

Was ist also passiert, dass ein Vater es nicht ertragen kann, dass sein Sohn in einem rein fiktiven Schauspiel mitwirkt und in seiner Rolle ein Kreuz um den Hals trägt? Was ist passiert, dass der Vater derart die Fassung verliert? Die Antwort darauf gehört zweifellos ins Private.

Nicht ins Private aber gehört die Aufarbeitung des Vorfalls, der seit einer Woche das ganze Dorf erschüttert. Nicht ins Private gehört auch die Frage danach, wie zur Tagesordnung übergegangen werden soll. Denn es ist zu einfach, sich hinzustellen und zu sagen: „Wir solidarisieren uns. Punkt.“ Dies ist nicht nur der Weg des geringsten Widerstands. Es ist auch der Weg des Wegsehens, des Abhakens. Zumindest nach außen hin.

In dieser Gemengelage ist es schlicht nicht möglich, sich gleichzeitig mit dem Verhalten des Vaters und der Situation des Sohnes zu solidarisieren. Denn ein Vater greift seinen Sohn an, weil dieser – in einem fiktiven Schauspiel! – ein christliches Symbol um den Hals trägt.

Und der Junge? Er wird bloßgestellt und zutiefst verletzt. Vor allem seelisch.

Bitter mutet da ein Satz aus dem Programmheft des Musicals „3 Musketiere“ an, zu finden im Grußwort von Bürgermeister Tobias Benz: „Es sendet eine wichtige Botschaft aus, gerade in unserer bewegten Gegenwart, die geprägt ist von eigentlich längst überwunden geglaubten Konflikten.“ Wie wahr.

Das muss aufgearbeitet werden.

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