Grenzach-Wyhlen „Die Erkrankung gab mir mehr, als sie mir nahm“

Die Fragen stellte Tim Nagengast.

Interview: Nadine Großmann aus Grenzach-Wyhlen lebt mit der genetischen Erkrankung Fibrodysplasia Ossificans Progressiva (FOP). Dabei kann sich in sämtlichem Weichgewebe Knochen bilden. Aktuell forscht die 31-Jährige an der Freien Universität Berlin im Rahmen ihrer Doktorarbeit über ihre eigene Erkrankung. Zurzeit arbeitet die junge Frau dafür in Philadelphia, und zwar in dem Labor, wo das Gen vor 17 Jahren entdeckt wurde.

Nadine Großmann hat gerade ein Morgenmeeting hinter sich, als sie sich zum Video-Telefonat mit unserem Redakteur Tim Nagengast zusammenschaltet. Der Zeitunterschied zu Philadelphia beträgt sechs Stunden. Die 31-Jährige, die 2011 ihr Abitur am Lise-Meitner-Gymnasium gemacht hat, lacht viel und strahlt dabei. Der Ton ist locker. Das Interview zu geben, macht ihr sichtlichen Spaß.

Frau Großmann, wann wurde Fibrodysplasia Ossificans Progressiva (kurz: FOP) bei Ihnen diagnostiziert? Und wie kam es dazu?

Erste Symptome hatte ich im Alter von 13 Jahren, was relativ spät ist für den ersten Schub. FOP hat bei mir in der Hüfte angefangen. Ich habe zu humpeln begonnen, es selbst aber gar nicht wahrgenommen, bis meine Mutter mich darauf angesprochen hat. Als ich dann an einem Schaufenster vorbeispaziert bin, habe ich mein Spiegelbild darin gesehen. Und gemerkt: Shit! Ich humpele ja wirklich. Und zwar deutlich. Und dann ging bald der Ärzte-Marathon für uns als Familie los.

Erzählen Sie!

Von Pontius zu Pilatus: Hausarzt, Kinderarzt, Orthopäde, Uniklinik – das ganze Programm eben. Im Jahr 2007, also zwei Jahre nach meiner ersten Vorstellung in der Klinik, hatte ein Kinderarzt eine Publikation über FOP gelesen und stellte die Verbindung zu meinem Symptomen her. Denn ich hatte auch von Geburt an einen verkrümmten Zeh – ein typisches Zeichen. 2014 hatte ich dann meinen nächsten Schub, und die Odyssee ging von neuem los. Ich wurde viermal operiert. Und trotzdem meinten mehrere Ärzte, meine Symptome kämen vom Stress an der Uni. Als dann die fünfte Operation anstand, habe ich gesagt: Jetzt ist Schluss!

Und was haben Sie dann gemacht?

Ich habe Eigenrecherche zum Thema FOP begonnen und im Internet die IFOPA gefunden.

Was ist das?

Die International Fibrodysplasia Ossificans Progressiva Association, eine in den USA ansässige Non-Profit-Organisation, die medizinische Forschung, Aufklärung und Kommunikation für diejenigen unterstützt, die von dieser seltenen genetischen Erkrankung betroffen sind. Alles, was wir dort lesen konnten, passte haargenau auf mich. Ich habe mich beim Lesen wiedererkannt.

Für meine Eltern war das ein Schock. Wir sind dann nach Garmisch-Partenkirchen in ein Expertenzentrum gefahren, wo die Diagnose FOP bestätigt wurde.

Wie geht es Ihnen heute?

Gut! Ich habe einen vergleichsweise milden Verlauf und bin für mein Alter sehr mobil. Ich kann eigentlich alles machen, studiere, versorge mich selbst, lebe eigenständig.

Aber Sie haben doch Einschränkungen?

Ja. Linksseitig humpele ich stark. So stark, dass mich immer wieder fremde Leute auf der Straße darauf ansprechen. Außerdem kann ich aufgrund von Verknöcherungen meinen rechten Arm nur noch bis auf Schulterhöhe anheben. Außerdem ist mein unterer Rücken total versteift. Quasi wie ein Brett! Das macht das Sitzen schwierig, zum Beispiel auch in Autos. Außerdem geht mein Kiefer nicht mehr ganz auf.

Das sieht man gar nicht...

Etwa 1,2 Zentimeter. Mehr geht nicht mehr. Ich habe Glück, dass ich dennoch so gut sprechen und auch recht normal essen kann.

Mal zu Ihrer Arbeit: Im Rahmen Ihrer Promotion forschen Sie als Biochemikerin an Ihrer eigenen Krankheit. Wie hat sich denn das ergeben?

Das war ein kleines bisschen Schicksal. Biologie hat mich schon immer interessiert. Weil ich während des Masterstudiums bereits wusste, was FOP ist, kam ich mit Kommilitonen darüber ins Gespräch. Eine fragte mich dann, wieso ich nicht darüber forschen würde. Ich wusste von unseren FOP-Treffen, dass es eine Forschungsgruppe an der Charité gibt, die unter anderem an FOP forscht. Von einer Gruppe an der Freien Universität habe ich dann kurze Zeit nach dem Start meiner Masterarbeit erfahren. Der Professor, der die Gruppe leitete, sagte zu und ließ mich meine Masterarbeit über FOP schreiben. Zudem konnte ich nach dem Abschluss meiner Masterarbeit in einer zweiten FOP-Forschungsgruppe ein Praktikum machen. So bin ich quasi in die Promotion reingerutscht. Dabei hatte eigentlich gar nicht promovieren wollen. Aber das war auch eine sehr große Chance, für die ich sehr dankbar bin.

Sie wehren sich dagegen, von einer „schrecklichen“ Krankheit zu sprechen. Sie wollen nicht bedauert werden und stecken Ihre ganze Kraft in das Thema FOP und seltene Krankheiten allgemein. Und das auf verschiedenen Ebenen.

Richtig. Mit ein paar Mitstreitern habe ich den Verein Loudrare gegründet, in dessen Vorstand ich auch bin. Zum „Tag der seltenen Erkrankungen“ hatten wir die Kampagne #wiedu gestartet. Und um diese nachhaltig zu gestalten, haben wir den Verein und eine digitale Community geschaffen. Mit unserer indikationsübergreifenden Kampagne wollen wir Aufmerksamkeit wecken für Menschen, die – wie ich – unter einer sogenannten seltenen Erkrankung leiden. Außerdem engagiere ich mich auch im Vorstand von „FOP Germany“ sowie der IFOPA. Ich investiere meine ganze Kraft, mein ganzes Herzblut in das Themenfeld seltene Krankheiten und FOP, will aufklären, informieren, Aufmerksamkeit erzeugen. Und zwar nachhaltig. Denn ich möchte Veränderungen erreichen, die Gesellschaft aufklären. Das beansprucht meine ganze Freizeit. Komplett. Aber das mache ich gerne – und zwar aus voller aus Überzeugung. Mir hat die Erkrankung mehr gegeben, als sie mir genommen hat.

Der Satz bleibt hängen!

Das ist wirklich so! FOP hat meinen beruflichen Weg gezeichnet. Meine ganze Entwicklung, mein Studium, meine Promotion und auch meine Zukunft. Für mich ist ein Traum in Erfüllung gegangen. Ich kann in dem Labor forschen, in dem im Jahr 2006 das Gen, das FOP verursacht, entdeckt wurde. Was für Möglichkeiten sich da auftun!

Und Ihre beruflich Zukunft nach der Doktorarbeit?

Ich möchte mich beruflich auf jeden Fall in Richtung Wissenschaftskommunikation entwickeln. Ich sehe mich da Beispielsweise in der Pharmabranche Vorträge halten.

Zurück zu Ihrer Erkrankung: Wie selten ist FOP überhaupt?

Mit mir gibt es derzeit lediglich 45 Menschen in Deutschland, bei denen dieser Gendefekt diagnostiziert wurde. Die Inzidenz von eins in einer Million lässt aber eine hohe Dunkelziffer vermuten.

Im Rahmen des „Rare Desease Month“, dem „Monat der seltenen Krankheiten“, sind Sie kürzlich eines der Gesichter der Kampagne gewesen. „Menschen mit seltenen Erkrankungen erkennst du daran, dass sie genau so sind #wiedu“, ist auf großen, lilafarbenen Bannern zu lesen. Dazu Ihr eigenes Konterfei plus der Spruch: „Ich habe eine seltene Erkrankung. Und einen Bruder, der nichts Scharfes verträgt“. Dazu ein junger Mann. Wer ist das?

Ja, eben, mein Bruder Patrick! (lacht)

Und der kann nichts Scharfes essen?

Nein. Echt nicht. Der verträgt das nicht! (lacht) Wir wollten für unsere Kampagne ganz bewusst keine Models. Alles, was auf den Bannern zu sehen ist, ist echt, ist authentisch.

In Ihrer Heimatgemeinde Grenzach-Wyhlen habe ich aber nichts gesehen. In Lörrach und Freiburg auch nicht.

Das wurmt mich ganz schön, muss ich gestehen. Der nächste Ort, wo wir einen Banner präsentieren konnten, war Stuttgart. Ganz schön weit weg. Zwar hingen bei Roche in Grenzach drei Banner, aber leider nicht das mit Patrick und mir, obwohl wir doch aus Grenzach sind. Lag vielleicht an der Farbgebung des Banners...

Aber in einem der Ortszentren hätte ein solches Transparent doch Wirkung erzielen können. Zumal es doch Leute im Ort gibt, die Sie kennen.

Ja, das wäre etwas gewesen! Ich hatte in der Sache neulich sogar Kontakt mit Bürgermeister Tobias Benz.

Und?

Hmmm, ich glaube, ich bin da leider nicht so vorgedrungen, wie ich mir das erhofft hatte. Er meinte, man könnte das in den Onlinemedien platzieren. Aber mit der Banner-Idee bin ich leider nicht weitergekommen.

Sie leben in Berlin und sind aktuell in Philadelphia. Wie oft kommen Sie überhaupt noch nach Grenzach-Wyhlen?

Also, während Corona war ich notgedrungen, weil ich wegen FOP als Risikopatientin gelte, sogar mehr in Grenzach-Wyhlen als in Berlin. Das hat sich dann aber wieder geändert. Zu Weihnachten und meist zum Geburtstag bin ich aber daheim in Grenzach.

Und wo gehen Sie dann am liebsten hin? Haben Sie einen Lieblingsplatz

Der Hornfelsen! Ich wandere und spaziere ohnehin sehr gerne. Trotz meiner Gehbehinderung. Wenn ich dann daheim bin, muss ich unbedingt aufs Hörnle rauf. Alleine schon diese Wahnsinnsaussicht!

Wann werden Sie diese Aussicht denn wieder einmal genießen?

Diesmal dauert’s leider ein bisschen. Ich komme nämlich erst wieder im Januar oder – das ziemlich sicher – im Februar 2024 heim nach Grenzach-Wyhlen.

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