Grenzach-Wyhlen „Lehrer sind keine Respektspersonen mehr“

Die Oberbadische
Carola Lambelet (links) aus Grenzach-Wyhlen war vor wenigen Tagen in Köln Talkshowgast in der Sendung „Maischberger“. Das Thema lautete „Kampfzone Klassenzimmer“. Foto: WDR/Max Kohr Foto: Die Oberbadische

Interview: Carola Lambelet aus Grenzach fordert in der Talkshow „Maischberger“ das Ende bildungspolitischer Experimente

„Kampfzone Klassenzimmer“ lautete am 9. Mai das Thema der ARD-Talkshow „Maischberger – die Publikumsdebatte“. Mit in der Gesprächsrunde saß Carola Lambelet aus Grenzach-Wyhlen. Die 50-jährige Ärztin ist Mutter dreier Söhne und stellvertretende Elternbeiratsvorsitzende am Lise-Meitner-Gymnasium.

Grenzach-Wyhlen. Wie es ihr in der Talkshow ergangen ist, ob Klassenzimmer pauschal zur „Kampfzone“ geworden sind und was im Bildungsbereich ihrer Ansicht nach heutzutage schiefläuft, berichtet Lambelet im Gespräch mit unserem Redakteur Tim Nagengast.

Frage: Frau Lambelet, in der Sendung „Maischberger“ haben Sie die „Kuschel- und Entspannungssofas in Grundschulen“ kritisiert. Das klingt doch gar nicht nach „Kampfzonen“.

Kampfzonen werden sie erst dann, wenn wir zuvor nicht wichtige Leitplanken gesetzt haben. Gerade in diesen für die Erziehung so maßgebenden Jahren vom Kindergartenbeginn bis zum Ende der Grundschule benötigen Kinder feste Strukturen, die ihnen Sicherheit und Verlässlichkeit vermitteln. Verinnerlichen sie diese Grundwerte nicht, werden sie später Probleme damit haben, selbständig zu lernen, sich zu konzentrieren und zu benehmen.

Daher bevorzuge ich auch den konservativen Erziehungsstil im Kindergarten mit festen Essens- oder Spielzeiten, gemeinsamen Gruppenaktivitäten und dem Erlernen von Grundfertigkeiten gegenüber dem Laissez-faire-Stil. Es kann nicht sein, dass Erzieher oder Lehrer, wie es in der Publikumsdebatte angesprochen wurde, auf „Augenhöhe“ mit den Kindern agieren. Die ist dort nämlich ziemlich niedrig.

Wie in vielen anderen europäischen Ländern auch, sollten meiner Ansicht nach die Grundzüge des Lesens, Schreibens und Rechnens bereits im letzten Kindergartenjahr erlernt werden, um die Kinder fit für die Grundschule zu machen. Und hier wäre es sicherlich hilfreich, wenn die Kinder nicht an Gruppentischen mit dem Rücken zum Lehrer und zur Tafel sitzen müssten und keine Ruhesofas vorfinden würden.

Frage: Lehrmethoden wie Anlauttabellen und „Schreiben nach Gehör“ führen sowohl in Lehrerzimmern als auch am heimischen Wohnzimmertisch zu verhärteten Fronten. Hat die Bildungspolitik des Landes – provokant gefragt – eine ganze Generation zu pädagogischen Versuchskaninchen gemacht?

Die Ergebnisse der PISA-Studie sprechen für sich. Während Baden-Württemberg im Jahr 2009 noch Spitzenreiter war, kann man dem Bildungsniveau in unserem Land nach der Schulreform nur ein desaströses Zeugnis ausstellen. Laut IQB-Studie beträgt der Abstand zu Sachsen in der Deutsch-Kompetenz ein ganzes Schuljahr, bei der Zuhörfähigkeit der Schüler sogar eineinhalb Jahre! Als einziges Bundesland stagnieren die Resultate bei der Englischkompetenz. Die Studie führt dieses katastrophale Ergebnis darauf zurück, dass gerade in Sachsen innerhalb der vergangenen 20 Jahre kaum Schulreformen durchgeführt wurden.

Wir dagegen versäumen es, den Schülern von Anfang an die richtige Orthografie beizubringen, und lassen diese schreiben, wie sie wollen, bis sie sich die falschen Buchstabenfolgen eingeprägt haben. Zum Glück ist die Kritik nun auch bei der Kultusministerin angekommen, die diese Praxis mittlerweile untersagt hat – allerdings halten sich noch immer einige Schulen nicht daran.

Frage: Mit welchem Ziel, glauben Sie, hat man solche Methoden überhaupt entwickelt?

Das ist eine politische Frage. Die vorherrschende Ideologie ist, alle Kinder über einen Kamm zu scheren, doch jedes Kind ist anders. Jedes hat seine eigenen Begabungen und Fähigkeiten, jedes sein eigenes Lern- und Entwicklungstempo.

Nach der Sendung „Maischberger“ sagte mir eine hessische Lehrerin hinter vorgehaltener Hand, dass sie der Lage im Klassenzimmer kaum noch Herr würde. Vom Autisten über den Störenfried bis zum Migrantenkind ohne ausreichende Deutschkenntnisse und dem hochbegabten Kind, das gefordert werden möchte, soll sie allen Schülern gerecht werden, was sie völlig überfordere. Dieser Lehrerin wurde übrigens auch von ihrer Rektorin nahegelegt, bitte nicht an der Diskussionsrunde im Fernsehen teilzunehmen, da dies ein schlechtes Licht auf die Schule werfen würde.

Frage: Wird von den Kindern heute zu wenig gefordert?

Auf jeden Fall. Meine vielleicht etwas provokative These lautet, dass wir von unseren Kindern bis zum zehnten Lebensjahr zu wenig verlangen, sie dann aber ohne ausreichende intellektuelle Grundausstattung auf den weiterführenden Schulen überfordern. Von den Lehrern dort ist dann zu hören, dass sie erst einmal die ersten sechs bis acht Wochen in den fünften Klassen benötigen, um den Kindern richtiges Benehmen beizubringen, da sie in vielen Grundschulen zu wenig Grenzen gesetzt bekommen hätten.

Da ich selbst aus einer Lehrerfamilie komme, kenne ich aber auch die andere Seite: Es gibt eine große Anzahl sehr befähigter Grundschullehrer, die ihren Beruf lieben. Das sind aber meistens die strengeren Lehrer, die für die Kinder auch einschätzbar sind. Aus Erfahrung spreche ich, wenn ich sage, dass Schüler in den ersten fünf bis zehn Minuten wissen, bei wem sie sich was erlauben können und bei wem eben nicht.

Frage: Ich selbst kenne Eltern, die mit ihren Kindern täglich Diktate und klassische Schreibübungen machen, weil sie sagen, ihr Kind bekomme dies alles in der Schule nicht mehr vernünftig beigebracht. Auch Eltern von Oberstufenschülers pauken mit ihrem Nachwuchs so manches Wochenende durch. Wie sind Ihre Erfahrungen?

Ich habe mir vor einigen Monaten einmal meine Schulhefte aus den 1970er und 1980er Jahren angesehen und dabei zu meiner Überraschung festgestellt, dass wir beispielsweise in Französisch schon nach sechs Wochen das erste Diktat geschrieben haben. So etwas findet heute einfach nicht mehr statt.

In meinem Bekanntenkreis, den ich vor meiner Teilnahme bei „Maischberger“ nach ihren Erfahrungen befragt habe, gaben mehr als 50 Prozent der Eltern an, entweder Nachhilfestunden bezahlen zu müssen oder selbst an den Wochenenden oder in den Ferien mit den Kindern lernen zu müssen. Da fällt dann in einer 9. Klasse für neun Wochen der Mathematikunterricht aus, und die Eltern können dem Kind im Urlaub den gesamten Stoff erklären. Auch einige Lehrer in der Diskussionsrunde bei „Maischberger“ lernen mit ihren Kindern oder bezahlen die Nachhilfestunden, wie mir später im Gespräch mitgeteilt wurde. Offen hat dies jedoch keiner ausgesprochen.

Frage: Was macht aus Ihrer Sicht eine gute Grundschule aus? In der Talkshow hatten Sie sich diesbezüglich auch zum Thema „Wertebildung“ geäußert.

Sich aufgehoben fühlen, stolz auf neue Kenntnisse und Fertigkeiten sein, Freude an neuem Wissen haben und nicht nur verwaltet werden. Werte wie Respekt, Anstand, Ehrlichkeit, Pünktlichkeit und Fleiß erlernen, auch Unangenehmes einstecken müssen. Dass die Schüler auch verstehen, nicht immer nach dem Lustprinzip handeln zu können, sondern auch einmal zurückstecken zu müssen, da sie sich den Normen der Gesellschaft unterordnen. Und natürlich selbstbewusst zu werden, weil ich etwas kann.

Frage: Dann müssten Ihnen Dinge wie Lerngruppen statt klassischer Unterrichtsstunden, morgendliche „Ankomm-Phasen“, Stuhlkreise, Krisenzimmer und Meditationsraum, Lerncoaches und -begleiter sauer aufstoßen.

Von diesen Ideen halte ich nichts. Dass sie nichts gebracht haben, zeigen allein schon die Studienergebnisse. Frühere Generationen meditierten auch nicht im Klassenzimmer, erzielten dafür aber ein höheres Bildungsniveau. Wenn wir unsere Kinder nur mit Samthandschuhen anfassen, tun wir ihnen damit keinen Gefallen. Im Gegenteil: Sie könnten mehr, aber wir müssten das auch von ihnen verlangen.

Frage: Sollte man die Uhren zurückdrehen und an Grundschulen wieder flächendeckend den Schulunterricht anbieten, wie er bis vor ungefähr zehn Jahren üblich war?

Ich werde nun wahrscheinlich von vielen Lesern kritisiert werden, erzkonservativ und rückschrittlich zu sein, aber gibt uns die bisherige Entwicklung nicht schon die Antwort auf diese Frage? Wer vor wenigen Jahrzehnten noch die Hauptschule abschloss, beherrschte meist eine anständige Orthografie und konnte rechnen. Heute fehlen diese Fertigkeiten – zum Leidwesen der Ausbilder.

Frage: Manche Bildungspädagogen dürften jetzt laut aufheulen: „Da kommt so eine erzkonservative Glucken-Mama daher!“

Da ich meine Kinder zur Selbständigkeit angeleitet habe und zwei meiner Söhne in diesem Sommer ein Auslandsjahr einlegen werden, sehe ich mich weniger als Glucke, denn als bildungspolitisch interessierte Mutter. Schule war für mich als Lehrertochter ein tägliches Gesprächsthema zu Hause. Sicherlich bin ich keine Bildungspolitikerin oder studierte Pädagogin, aber mir geht es darum, mit dem gesunden Menschenverstand etwas in der Gesellschaft verbessern zu wollen, da ich sehe, wie sehr Schüler, Eltern und auch Lehrer die Fehlentscheidungen aus Stuttgart jeden Tag ausbaden müssen.

Frage: In der Talkshow wurde Kritik an Eltern laut, welche die nicht mehr verbindliche Grundschulempfehlung ignorieren und ihre Kinder gegen alle Ratschläge aufs Gymnasium schicken. Teilen Sie diese Kritik?

Die frühere Grundschulempfehlung war eine gute Sache. Im Zweifelsfall konnte ein Schüler zu meiner Zeit noch eine Aufnahmeprüfung für die weiterführende Schule machen. Der Wegfall der verbindlichen Empfehlung ist verantwortlich für den Tod der Hauptschule und bedeutete damit das Ende des dreigliedrigen Schulsystems. Jetzt ist die Realschule zu einem Sammelsurium geworden – zum Leidwesen der Lehrer und Schüler.

Frage: Aber ein Bekannter von mir hatte – das ist 30 Jahre her! – „nur“ eine Hauptschulempfehlung, durfte dann nach Intervention seiner Eltern und einer Aufnahmeprüfung die Realschule besuchen, wechselte im Folgejahr ans Gymnasium und ist heute Mediziner. Er sagt: „Wenn meine Eltern damals nicht Dampf gemacht hätten, wäre ich heute nicht da, wo ich bin.“

Ich habe einen ähnlichen Fall in der eigenen Familie: von der Hauptschule über den zweiten Bildungsweg zum Diplom-Ingenieur und heutigen Leiter einer großen Firma. Auch aus den Erzählungen meines Vaters, eines früheren Schulleiters, kenne ich etliche solcher positiven Beispiele. Das ist natürlich der Idealfall, aber er zeigt, dass sich Eltern immer kümmern und interessieren müssen und am besten Fleiß und das Streben nach Erfolg vorleben sollen.

In Familien, in denen dies nicht möglich ist, wäre es wünschenswert, wenn sich in diesem Fall ein interessierter Lehrer des Kindes annehmen könnte. Das sehe ich sogar als pädagogische Pflicht an.

Frage: Zurück zu „Maischberger“: Dort haben Sie von Grundschulen gesprochen, an denen leistungsbereite Schüler Ohrenschützer bekommen, damit sie konzentriert arbeiten können. Kennen Sie selbst solche Schulen?

Ich kenne Eltern aus mehreren Bundesländern, die mir davon berichteten. Selbst Lehrer bei „Maischberger“ haben mir diese gängige Praxis bestätigt. Wir waren früher 38 Kinder in einer Grundschulklasse, und kein einziges Kind benötigte einen Lärmschutz. Da stimmt meiner Meinung nach etwas mit der Autorität der Lehrer nicht.

Frage: Kann es sein, dass Lehrer heutzutage einfach zu wenig dürfen oder sich nichts mehr trauen, weil sie Angst haben vor klagefreudigen Eltern, aber auch vor Schulleitern, die nach außen hin „Ruhe im Stall“ wollen?

Absolut richtig. Leider sind Lehrer heute kaum noch Respekts- oder Autoritätspersonen, woran die Gesetzgebung, aber auch der gesellschaftliche Wandel nicht unmaßgeblich schuld sind. Beispielsweise dürfen so einfache Dinge wie eine Kopfrechnen-Olympiade oder das Abhören von Englischvokabeln an der Tafel nicht mehr durchgeführt werden, weil das Kind eventuell vor den Klassenkameraden bloßgestellt werden könnte.

Lehrer besitzen kaum mehr Sanktionsmöglichkeiten ihren aufmüpfigen Schülern gegenüber und erhalten meist keine Unterstützung von der Elternseite. Das ist eine bedenkliche Entwicklung in die falsche Richtung.

Frage: Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen, bei „Maischberger“ zum Thema „Kampfzone Klassenzimmer“ zu sprechen?

Ich hatte der WDR-Redaktion im Herbst einen etwas provokativen Brief zu meinen Ideen über das heutige Bildungssystem geschrieben, der dem verantwortlichen Redakteur wohl gefallen hat. Jedenfalls hat er daraufhin mehrmals mit mir telefoniert und mich aufgefordert, diese Ideen in einer Fernsehtalkrunde auszusprechen. Dieser Einladung nach Köln kam ich gerne nach.

Frage: Zu guter Letzt: Werden Sie in Grenzach-Wyhlen auf Ihren Auftritt bei Sandra Maischberger angesprochen?

Schon vor Ausstrahlung der Sendung wussten etliche Leute im Ort von meiner Teilnahme. Amüsant wurde es dann, als ich noch im Zug nach Hause saß, während die Sendung schon in der ARD lief und ich viele WhatsApp-Nachrichten von Zuschauern erhielt. Seither bin ich vielfach darauf angesprochen worden – selbst von einigen meiner früheren Lehrer, die meine Meinung übrigens durchweg befürworteten.

Obwohl wahrscheinlich nicht jeder meine Haltung teilt, denke ich, dass der konstruktive Austausch über dieses immens wichtige Thema unserer Zeit noch in viel größerem Umfang stattfinden sollte. Das Miteinander von Eltern, Lehrern und Schülern muss besser werden.

Umfrage

Bargeld

Die FDP fordert Änderungen beim Bürgergeld. Unter anderem verlangt sie schärfere Sanktionen. Was halten Sie davon?

Ergebnis anzeigen
loading