Doch Evans Erklärungen der Todesfälle gelten unter Experten als höchst umstritten, ja geradezu abwegig. So beruft sich der Mediziner etwa maßgeblich auf eine wissenschaftliche Veröffentlichung über Luftembolien aus dem Jahr 1989, in der Verfärbungen der Haut beschrieben werden, die an die Todesfälle im Countess-of-Chester-Krankenhaus erinnern. Als einer der Autoren des Papers, Dr. Shoo Lee, ein führender Neonatologe aus Kanada davon erfährt, ist er entsetzt. Evans habe seine Erkenntnisse vollkommen falsch interpretiert.
Doch für Letby kommt das zu spät. Ihr wird unter anderem zum Verhängnis, dass ihr Anwalt es versäumt, eigene Experten ins Feld zu führen. In Großbritannien werden Experten nicht vom Gericht bestellt, sondern von den Anwälten beider Seiten eingebracht. Sie arbeiten auf Honorarbasis. Bei dem zehn Monate dauernden Prozess werden von der Verteidigung aber lediglich Letby selbst und ein Klempner in den Zeugenstand gerufen, der über Abwasser-Probleme Zeugnis ablegen soll.
"Wir haben keine Morde festgestellt."
Den emeritierten Professor Lee lässt der Fall nicht los. Er beruft ein Gremium aus 14 der renommiertesten Mediziner und Experten für Neonatologie aus der ganzen Welt zusammen, die sich bereiterklären, ohne Vergütung Gutachten zu erstellen. Darunter ist auch der deutsche Professor Helmut Hummler. Der Neonatologe ist Senior Medical Director der European Foundation for the Care of Newborn Infants in München.
Je zwei Experten beschäftigen sich mit zwei der 14 Fälle, in denen Letby wegen Mordes oder versuchten Mordes verurteilt wurde. "In beiden Fällen ist das, was da von Seiten der Anklage vorgebracht wurde, aus meiner Sicht nicht zutreffend oder extrem unwahrscheinlich", sagt Hummler im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur über die von ihm in Einsicht genommenen Patientenakten. Es gebe "überhaupt keinen plausiblen Anhalt dafür", dass jemand die Komplikationen absichtlich herbeigeführt habe. In einem der Fälle, bei dem das Kind starb, sehe er andere Probleme, die zum Tod geführt haben.
Lees Gremium kommt in allen 14 Fällen zu diesem Ergebnis. "Wir haben keine Morde festgestellt. In allen Fällen waren Tod oder Verletzung auf natürliche Ursachen oder einfach schlechte medizinische Versorgung zurückzuführen", sagte Lee bei einer Pressekonferenz in London Anfang Februar. Mehr noch: Die Experten stellen in manchen Fällen gravierende Behandlungsfehler durch Ärzte fest und sie bestätigen das Bild einer teils chaotischen Station, deren Mitarbeiter überarbeitet und überfordert waren.
Die Entscheidung über einen neuen Prozess kann Jahre dauern
Zu Letbys Verurteilung führen neben einer Reihe anderer Indizien auch handgeschriebene Notizen, auf denen sie etwa festhielt: "Ich bin böse, ich habe das getan." Ihre Erklärung, dass sie, mit den Vorwürfen konfrontiert, in psychische Schwierigkeiten geriet und auf Anraten eines Psychologen ihre wirren Gefühle aufschrieb, überzeugen die Jury aber nicht.
Ob der Fall noch einmal vor Gericht verhandelt wird, ist ungewiss. Nach Ausschöpfung des Rechtswegs ruht ihre letzte Hoffnung nun auf einer Justiz-Kommission, die darüber entscheiden soll, ob der Fall neu aufgerollt werden muss. Doch das kann Jahre dauern.
Polizei und Justiz beschäftigen sich unterdessen mit der Frage, warum die verurteilte Serienmörderin Letby nicht früher gestoppt wurde. Bei einer öffentlichen Untersuchung dazu werden in diesen Tagen die Schlussplädoyers erwartet. Gegen mehrere Kollegen Letbys werde wegen fahrlässiger Tötung ermittelt, teilte die Polizei kürzlich mit. Beides fußt auf der Annahme, dass ihre Verurteilung rechtmäßig war. Aber was, wenn nicht?