Von Toni Kostic
Schicksal: Hanna Otto aus Inzlingen leidet an einer chronischen, schmerzhaften Krankheit. An welcher ist noch nicht restlos geklärt
Von Toni Kostic
Inzlingen. Hanna Otto aus Inzlingen leidet an einer chronischen und schmerzhaften Krankheit. An welcher, ist derzeit noch nicht restlos geklärt. Am regulären Schulunterricht kann die 16-jährige Gymnasiastin aber nicht mehr teilnehmen. Hanna und ihre Eltern mussten in den vergangenen eineinhalb Jahren nicht nur lernen, mit der Krankheit umzugehen, sondern auch erfahren, dass Schüler, die dieses Schicksal teilen, in unserem System leicht durchs Raster fallen können. Inzwischen aber ist Hanna an einem Lernzentrum eingeschrieben, das den Unterricht ausschließlich digital anbietet. Der Weg bis dorthin war jedoch nicht einfach. Nach mehr als eineinhalb Jahren hat das Mädchen nun einen Weg gefunden, um sein Ziel doch noch zu erreichen: das Abitur.
Schmerzen - rund um die Uhr
Wie das Mädchen selbst erzählt, handle es sich bei der Krankheit um ein gewisses Spektrum an genetisch bedingten Bindegewebserkrankungent. Ihr Bewegungsapparat sei jedenfalls davon betroffen, sagt Hanna. „Sehnen und Haut sind viel zu weich, um Stabilität für den Körper zu gewährleisten, um beispielsweise elf Schulstunden lang sitzen zu können. Das Krankheitsbild geht einher mit starken chronischen Schmerzen – rund um die Uhr“, verdeutlicht Markus Otto, der vater der 16-Jährigen.
Das erste Mal, dass sich Schmerzen bei Hanna äußerten, war zu Beginn des Jahres 2021. Ab Mai wurde es für das Mädchen dann zunehmend schwerer, regelmäßig zur Schule in Lörrach zu gehen. Der Teenager hat seither mehrere Termine pro Woche – Physio- und Ergotherapie zum Beispiel.
Zwang zur Anwesenheit verschlimmert die Lage
Der Schulunterricht fand pandemiebedingt zunächst noch online statt. Hanna konnte ihn daher zu Hause am Laptop besuchen. Ende des Jahres 2021 dann kam das Thema Versetzungsgefährdung auf. Um an staatlichen Schulen versetzt zu werden, müssen Schüler aber eine Anwesenheit von 50 bis 60 Prozent nachweisen, sagt Markus Otto. Weil Hanna aber auch mal zwei Wochen am Stück fehlt, erreichte sie diese Grenze schnell.
Das erste Schulhalbjahr 2021/22 hat Familie Otto noch gut überstanden, im März schließlich habe man sich aber dazu entschieden, Hanna vom Lörracher Hans-Thoma-Gymnasium abzumelden, weil der psychische Druck zur Präsenzpflicht einfach zu groß geworden sei. Außerdem habe sich dies auch auf Hannas Schmerzsymptomatik negativ ausgewirkt.
Zunächst vom HTG auf die Waldorfschule gewechselt
Fortan besuchte die 16-Jährige die Waldorfschule – ebenfalls in Lörrach. Familie Otto erhoffte sich, aufgrund des anderen pädagogischen Ansatzes der anthroposophischen Einrichtung und der Möglichkeit, das Abitur dort erst nach 13 Jahren ablegen zu können, eine Verminderung des Drucks, der auf Hanna lastete. Nach anfänglicher Begeisterung habe sich jedoch auch hier, wie ihr Vater erzählt, wieder Ernüchterung eingestellt. Denn Hanna konnte auch auf der Waldorfschule nicht oft genug anwesend sein.
Schon länger hatte die Schülerin daher begonnen, sich selbst zu organisieren. So besorgte sie sich etwa Unterrichtsmaterial von Mitschülern, wenn sie wieder gefehlt hatte, und kümmerte sich darum, auf dem Laufenden zu bleiben.
Schlechte Noten waren nie das Problem
Hannas schulische Laufbahn sei nie durch schlechte Noten gefährdet gewesen, stellt Markus Otto klar, „denn die gab es nicht“. Sie habe schlicht und einfach zu selten physisch am Unterricht teilnehmen können. Hätte seine Tochter die Möglichkeit gehabt, weiterhin zu Hause zu bleiben, wäre es auch nicht zu den Schulabmeldungen gekommen, ergänzt Markus Otto. „Von unserer Seite aus wäre es eigentlich total einfach gewesen, da die Technik, eine ruhige Lernatmosphäre wie auch unsere Kooperationsbereitschaft, Neues auszuprobieren, vorhanden waren“, sagt Bettina Otto, Hannas Mutter. Aber aus datenschutzrechtlichen Gründen dürfe man den regulären Unterricht eben nicht via Internet nach Hause übertragen.
„Generell hätte ich mir gewünscht, dass man mich in der zurückliegenden Zeit als Menschen und nicht als einen Klotz am Bein gesehen hätte“, sagt Hanna. „Unterricht zu haben, wäre natürlich wundervoll gewesen.“ Außerdem wünscht sie sich, „dass man ein Konzept erstellt, um mit Leuten wie mir umzugehen, mit Leuten, die eine chronische Erkrankung haben, entweder physisch oder psychisch – sodass andere Kinder nicht auch vor solche Hindernisse gestellt werden.“
Ähnlich gelagerte Fälle kennt die Familie bisher nicht
Während der gesamten Zeit waren Ottos regelrecht auf sich alleine gestellt. Bei ihren Recherchen seien sie auf keine anderen Familien gestoßen, die einen ähnlichen Weg hinter sich hätten. Auch die Gespräche mit den zuständigen Stellen des Staatlichen Schulamts in Lörrach hätten nicht weitergeholfen. Die Behörde habe keinen alternativen Weg aufzeigen können, der Hanna noch zum Abitur führen könnte.
Schulfremdenprüfung als Lösungsmöglichkeit
Die in Inzlingen lebende Familie aber gibt nicht auf, recherchiert weiter und stößt dabei schließlich auf das Lernzentrum Killesberg. Es bietet die gymnasiale Oberstufe als eine Art Fernlehrgang an – analog zum Fernstudium. Für Hanna bietet es den Vorteil, dass alles digital stattfindet. Die 16-Jährige berichtet, dass es in manchen Fächern einmal pro Woche Videokonferenzen gebe. Über eine Bildungsplattform könne sie ihren Lehrern auch jederzeit schreiben, sollte etwas unklar sein. Letzten Endes besteht ihr Schulalltag aber wieder aus 80 bis 90 Prozent Eigenarbeit.
Auch hier gibt es ihrem Vater zufolge Einschränkungen: Die soziale Teilhabe bleibe auf der Strecke. Denn selbstverständlich sei es etwas anderes, vor Ort und Teil einer sozialen Gemeinschaft zu sein.
Hanna geht es etwas besser
Seitdem Hanna die Oberstufe digital besucht, ist die Rückmeldung ihrer Therapeutin jedenfalls positiver: Es sei eine deutliche Verbesserung der Wirbelsäule zu sehen. Darüber hinaus gebe es weniger Verspannungen, Verklebungen und Verschiebungen, sagt Hanna.
Am Ende ihrer Vorbereitungszeit will das Mädchen aus dem Waieland sich als sogenannte Schulfremde beim Kultusministerium für das Abitur anmelden. Hanna möchte es voraussichtlich im Jahr 2024 regulär ablegen. Sie freut sich schon darauf.
Stellungnahme von HTG-Direktor Frank Braun:
Die Umsetzung der Schulpflicht sei gesetzlich geregelt, sagt Frank Braun, Schulleiter des Hans-Thoma-Gymnasiums (HTG) Lörrach. Deshalb sei die Unterrichtszeit in Präsenz zu erbringen. Weiter hält Braun fest: „Es geht nicht, dass ein Schüler nicht anwesend ist.“
Eine digitale Beschulung wie zur Zeit der Pandemie könne für Kinder nicht angewendet werden, die nicht kommen wollten oder könnten. Einfache Überlegungen, die Schulstunden mit einer Kamera aufzuzeichnen und sie den entsprechenden Schülern nach Hause zu übertragen, sieht Braun kritisch. „Die Problematik besteht darin, dass wir einen Raum bräuchten, der wie ein Tonstudio ausgestattet ist.“ Darüber hinaus fragt Braun: „Was nehme ich auf, damit der Schüler in Gänze den Unterricht verfolgt? Wir müssten Mikrofone haben, jemanden, der filmt und das Ganze überwacht.“
Darüber hinaus müssten die Materialien so hergerichtet werden, dass man sie zu Hause gesondert aufarbeiten könnte. „Es funktioniert eben nicht so, dass man nur ein Arbeitsblatt hochlädt“, stellt der HTG-Direktor klar. Hinzu komme der Datenschutz als zusätzlicher Punkt. Unter anderem müsste sichergestellt sein, dass die Aufnahmen beziehungsweise der Stream nicht mehr negativ verändert werden könnten.
Stellungnahme von Valérie Ralle, Geschäftsführerin der Freien Waldorfschule Lörrach:
Grundsätzlich sei es so, dass man im Fall von Schülern, die nicht regelmäßig am Unterricht teilnehmen könnten, mit den zuständigen Behörden zusammenarbeitet, sagt Valérie Ralle, Geschäftsführerin der Freien Waldorfschule Lörrach.
Da auch für diese die Regularien des Regierungspräsidiums gälten – sie seien denen der staatlichen Schulen in vielem ähnlich –, biete das Privatschulgesetz in vielen Bereichen keine Spielräume. Dennoch finde man im Fall von chronisch erkrankten Schülern in Kooperation mit der Behörde eine Lösung, sagt Ralle. Fehlzeiten seien dabei immer individuell zu betrachten. Die Fehltageregelungen griffen aber in allen Fällen, also auch bei allen menschlichen Schicksalen, stellt Ralle klar. Zwar habe die Waldorfschule selbst keine Versetzungsregelung, „aber trotzdem orientieren wir uns an den staatlichen Regularien“.
„Wir haben während der Corona-Zeit digitalen Unterricht angeboten“, sagt Ralle, der viele datenschutzrechtliche Bestimmungen mit sich bringt. Eben deshalb sei es sehr schwierig, Unterricht für den einzelnen Schüler nach Hause zu streamen. Mit dem Ende der Pandemie stehe das Streaming des Unterrichts ohnehin nicht weiter als Option im Raum, wie Ralle abschließend festhält.
Stellungnahme von Heike Spannagel, Pressesprecherin des Regierungspräsidiums Freiburg:
„Für Schülerinnen und Schüler, die aufgrund einer Erkrankung nicht am Unterricht in der Schule teilnehmen können, sieht das Schulgesetz des Landes Baden-Württemberg Hausunterricht vor“, sagt Heike Spannagel, Pressesprecherin des Regierungspräsidiums (RP) Freiburg. Dieser Hausunterricht sei jedoch nicht gesetzlich vorgeschrieben, sondern als „Soll-Regelung“ formuliert. „Das heißt, die betroffenen Schülerinnen und Schüler haben kein Anrecht darauf“, stellt Spannagel fest. In jedem Einzelfall regelten die Schulen mit den Familien, in welchem Umfang der Hausunterricht umgesetzt werden könne.
Im Fall von Hanna Otto habe die Schulabteilung des RP die Schule auf die Möglichkeit von Hausunterricht hingewiesen und beraten. Die Umsetzung liege dann bei der Schule. Ein generelles Anrecht auf eine digitale Zuschaltung zum Präsenzunterricht gebe es aber aus Datenschutzgründen nicht, hält Spannagel fest. Um zu den Abiturprüfungen zugelassen werden zu können, müssten Schüler in der Kursstufe eine vorgegebene Anzahl an Kursen belegt haben. Sei ein Schüler aufgrund einer Erkrankung dazu nicht in der Lage, könne die Schule verlassen und an der Schulfremdenprüfung teilnehmen. Die Vorbereitung darauf liege aber stets in der Verantwortung des Einzelnen.