Kreis Lörrach Aus Worten werden Wege

Die Oberbadische

Interview: Die Mitarbeiter der Telefonseelsorge spüren bei den Anrufern mehr Einsamkeit und Ängste

Wer Ängste oder Sorgen hat, kann rund um die Uhr gebührenfrei und anonym die Telefonseelsorge anrufen.

Kreis Lörrach. Mit Pfarrer Traugott Weber, dem Vorsitzenden der Telefonseelsorge Lörrach-Waldshut, sprach Veronika Zettler über Sorgentelefonate in Zeiten von Corona.

Frage: Herr Weber, die TelefonSeelsorge Lörrach-Waldshut verzeichnet im Corona-Jahr 2020 vermutlich mehr Anrufe als in früheren Jahren?

In der Tat, besonders die Gespräche mit dem Thema Corona. Bei denen haben wir einen deutlichen Anstieg im Frühjahr registriert, als die Corona-Krise anfing, diese flachten im Sommer wieder ab, gehen aber seit Mitte September wieder stetig nach oben.

Frage: Was beschäftigt die Anrufer?

Einsamkeit ist ein starkes Thema, aber auch Ängste und die Arbeitssituation, all das bis zur depressiven Stimmung und auch Suizidgedanken, verstärkt im Zusammenhang mit Corona. Wir machen ja nur ein telefonisches Angebot. In TelefonSeelsorge-Stellen, die zusätzlich Mail- und Chatberatung anbieten, wird das Thema Suizid per Mail noch häufiger angesprochen als am Telefon. Das liegt vielleicht auch daran, dass man die Gedanken beim Schreiben besser ordnen kann.

Frage: Wie viele TelefonSeelsorger arbeiten in Ihrer Stelle und mit welchem Pensum?

Derzeit sind es circa 50 Personen, die ehrenamtlich Dienst tun. Insgesamt führen wir pro Jahr 5000 Gespräche. Alle Mitarbeitenden leisten im Monat drei Tagesdienste und einen Nachtdienst. Wenn unsere Leitung besetzt ist, wird der Anruf zur TelefonSeelsorge Freiburg weitergeleitet, und wenn dort belegt ist, in eine andere badische Stelle.

Frage: Sie arbeiten schon lange in der TelefonSeelsorge, waren 15 Jahre lang sogar Bundesgeschäftsführer der TelefonSeelsorge Deutschland. Haben sich die seelischen Nöte der Anrufer im Laufe der Jahre gewandelt?

Seit Jahrzehnten stehen Familienkonflikte an erster Stelle. Gleichzeitig stellen wir fest, dass psychische Krankheiten und psychische Beschwerden zugenommen haben. Nicht sprunghaft, aber stetig. Dazu gehören auch depressive Stimmungen.

Frage: Wo verläuft für Sie die Grenze zwischen, sagen wir, einer angemessenen Portion Frust und einer Depression?

Wir sind keine Therapeuten. Wir machen eine Erstberatung, bei der wir überlegen, wie den Anrufenden weitergeholfen werden kann. In meiner Zeit als Bundesgeschäftsführer hatten wir eine Werbung, die dies genau beschreibt. Da hieß es: Aus Worten können Wege werden. Das Bild dazu zeigte zwei Berge und dazwischen einen tiefen Abgrund. Über den Abgrund führte eine Brücke in Form eines Telefonhörers. Dieses Bild fand ich sehr schön. Genau das ist es, was wir oftmals leisten können. Ein Mensch, der nicht mehr weiter weiß, erkennt im Gespräch mit einem fremden Menschen seinen Weg. Gehen muss er ihn alleine.

Frage: Wissen Sie immer einen Rat?

Man sagt ja: Ratschläge sind auch Schläge. Wir raten nicht. Ratschläge bekommt man heute an jeder Ecke. Wir versuchen wirklich, gemeinsam einen Weg zu finden, indem wir aktiv zuhören, sondieren, helfen, auch hinterfragen und Anregungen für den weiteren Weg geben. Wir versuchen, die Anrufenden ernst zu nehmen, damit sie ihren Weg selber finden. Vielen Menschen hilft es schon, wenn sie alles einmal aussprechen können und das Gefühl haben, verstanden worden zu sein.

Frage: Sind bestimmte Altersgruppen stärker vertreten als andere? Männer häufiger als Frauen oder umgekehrt?

Die Frauen überwiegen ganz klar. 60 Prozent der Anrufenden sind weiblich. Vielleicht fällt es Männern schwerer, darüber zu sprechen, was sie quält. Davon abgesehen rufen uns auch Kinder an, zum Beispiel, weil sie den andauernden Streit ihrer Eltern nicht mehr aushalten.

Frage: Es liegt viel Verantwortung darin, Menschen in Not- und Krisensituationen zu beraten. Wie kann man sicherstellen, dass da nichts verkehrt läuft?

Unsere Ehrenamtlichen durchlaufen eine gründliche Ausbildung, bevor sie selbstverantwortlich ans Telefon gehen. Die Qualifizierung umfasst 100 Stunden, zusätzlich Hospitation. Es gibt zudem regelmäßige Supervisionen. Das ist für unsere Mitarbeitenden auch entlastend. Eine TelefonSeelsorgeleiterin, die schon seit 25 Jahren Dienst macht, sagte mir einmal, sie sei immer gespannt darauf, wo sie sich in der Supervision selbst auf die Schliche komme.

Frage: Wann und wie gelangten Sie selbst zur TelefonSeelsorge?

Das war sehr früh. Seelsorge war mir immer schon wichtig und hat mich nie losgelassen. In einem Seminar für Theologie- und Psychologiestudenten in Heidelberg habe ich 1973 zwei Semester lang die Ausbildung zum TelefonSeelsorger gemacht. Vom Konzept der TelefonSeelsorge war ich begeistert. Noch während der praktischen Ausbildung half ich in Duisburg beim Aufbau der TelefonSeelsorge und bestritt etliche Nachtdienste. 1991 wurde ich dann Bundesgeschäftsführer der TelefonSeelsorge beim Diakonischen Werk in Stuttgart und blieb dort bis 2006.

Frage: Haben Sie derzeit genügend ehrenamtliche Mitarbeiter?

Wir brauchen immer wieder neue Ehrenamtliche, die bereit sind, die Ausbildung zu absolvieren und mindestens drei Jahre lang mitzuarbeiten. Die meisten machen es aber viel länger. Trotzdem: Es ist ein nicht unerheblicher Zeitaufwand. Oder wie ich gerne sage: Unsere Ehrenamtlichen leisten eine nicht unerhebliche Zeitspende. Sie bringen einen wirklich unglaublichen Einsatz für andere Menschen. Anders aber als zum Beispiel in der Feuerwehr oder beim Sportverein bekommen unsere Ehrenamtlichen, da sie anonym arbeiten, keine öffentliche Ehre erwiesen.

Weitere Informationen: Die TelefonSeelsorge ist unter der bundesweit einheitlichen Rufnummer 0800-111 0111 rund um die Uhr erreichbar

ist geboren und aufgewachsen im Rheinland. Er war elf Jahre lang Gemeindepfarrer in St. Blasien, davor 15 Jahre lang Bundesgeschäftsführer der Telefonseelsorge Deutschland. Seit dem 1. September 2017 ist er im Ruhestand. Zumindest offiziell. Denn der verheiratete Vater von zwei Kindern und Großvater von zwei Enkelkindern hat als Vorsitzender der Telefonseelsorge Lörrach-Waldshut ordentlich zu tun.

Umfrage

Bargeld

Die FDP fordert Änderungen beim Bürgergeld. Unter anderem verlangt sie schärfere Sanktionen. Was halten Sie davon?

Ergebnis anzeigen
loading