Kreis Lörrach „Jeder krempelt die Arme hoch“

Michael Werndorff
Andreas Finke stand seit dem Jahr 2017 an der Spitze der Agentur für Arbeit in Lörrach. Foto: Michael Werndorff

Interview: Andreas Finke, scheidender Leiter der Lörracher Agentur für Arbeit, zieht Bilanz

Andreas Finke, scheidender Chef der Lörracher Arbeitsagentur, wechselt in seiner Rolle als Leiter ab Juni nach Freiburg. Auf ihn folgt Horst Eckert, bisher Geschäftsführer Operativ. Gemeinsam mit unserem Redakteur Michael Werndorff zieht Finke Bilanz und äußert sich zu den coronabedingten Herausforderungen, der Wirtschaftskrise sowie dem regionalen Arbeitsmarkt.

Frage: Herr Finke, die Corona-Pandemie ist mit die größte Herausforderung seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Wirtschaftsleistung sinkt dramatisch, wir steuern auf eine ausgeprägte Wirtschaftskrise zu. Finden Sie nachts noch Schlaf?

Ja, und zwar aus zwei Gründen: Unsere Kollegen legen ein großartiges Engagement an den Tag und bedienen nicht das Klischee einer Behörde, Arbeit nach Vorschrift zu machen und in Zuständigkeiten zu denken. Im Gegenteil: Jeder krempelt die Arme hoch und hilft. Das ist unfassbar beeindruckend. Darüber hinaus ist die Bundesagentur für Arbeit für diese Aufgabe bestens aufgestellt. Zum einen hat sie sich nie beirren lassen, Rücklagen zu bilden, um jetzt das nötige Geld zu haben. Zum anderen ist sie organisatorisch gut aufgestellt.

Frage: Die Agentur musste sehr schnell auf die wirtschaftliche Talfahrt reagieren. Welche Maßnahmen wurden in die Wege geleitet, um die Anliegen von Unternehmen und Bürgern zügig bearbeiten zu können?

Ich bin immer wieder beeindruckt, wie flexibel unsere Organisation reagiert. Mit dem Ziel, Mitarbeiter und Kunden zu schützen, wurden die Häuser geschlossen und gleichzeitig die Erreichbarkeit per Telefon und Internet ausgebaut, interne Schulungen gemacht sowie die Medien informiert. Dann fingen wir an, die Arbeitgeber zu beraten. Zur Verdeutlichung: Im vergangenen Jahr zählten wir insgesamt sechs Anrufe von Arbeitgebern zum Thema Kurzarbeit. Im Zuge der Krise gab es Tage, an denen wir 200 Telefonate registrierten. Während es im vergangenen Jahr vier Anzeigen auf Kurzarbeit gab, sind es jetzt 4000. Während 2019 insgesamt 44 Menschen betroffen waren, zählen wir mittlerweile mehr als 45 000.

Frage: Konnte die Agentur die Aufgaben mit dem vorhandenen Personal abdecken?

Ja, wir haben die Berufsberatung pausiert, die Arbeitsvermittlung beinahe ruhen lassen und unsere Beratungs- und Vermittlungsfachkräfte im Leistungsbereich wie auch in der Arbeitnehmer- und Arbeitgeber-Hotline konzentriert.

Frage: Ziel ist eine schnelle Bearbeitung der Anliegen. Es gibt aber Betriebe, die noch auf das Kurzarbeitergeld vom April warten.

Unser Monitoring zeigt, dass Anliegen und Anträge sogar schneller als vor Corona-Zeiten bearbeitet werden. Mittlerweile dauert die Bearbeitung 2,7 Tage. Zum Thema Kurzarbeit: Anträge werden generell monatlich rückwirkend gestellt. Ich appelliere an Arbeitgeber, die Hotline anzurufen und bei Unklarheiten nachzuhaken.

Frage: Sie sagten, dass die Agentur finanziell auf solidem Fundament steht. Dennoch stellt sich angesichts der Wirtschaftskrise die Frage, wie es in dieser Zeit um die steuerfinanzierte Grundsicherung, Hartz IV und die finanziellen Reserven der Behörde steht. Muss das System nun auf den Prüfstand gestellt werden?

Nein, eigentlich nicht. Wir haben im Blick, wie viele Menschen durch Kurzarbeit ergänzende Leistungen aus der Grundsicherung bekommen. Wir haben mit viel, viel mehr Leistungsbeziehern gerechnet. Die Zahlen sind glücklicherweise nicht so hoch. Im Agenturbezirk gibt es rund 10 000 Soloselbstständige, davon sind rund 200 in der Grundsicherung. Mit Beschluss des Sozialschutzpakets II wird die Grundsicherung entlastet, weil das Arbeitslosengeld drei Monate länger gezahlt wird. Außerdem sorgt die Aufstockung und Verlängerung des Kurzarbeitergelds für Entlastung.

Frage: Bleibt immer noch die Gefahr einer zweiten Pandemiewelle.

Leider ja. Unsere Experten gehen bei einem zweiten Lockdown davon aus, dass die Rücklagen der Agentur für Arbeit zum Jahresende aufgebraucht sein werden. Dann ist die Bundesregierung gefragt.

Frage: Kurzarbeit ist ein bewährtes Instrument, um Arbeitslosigkeit zu verhindern. Können die Unternehmen im Kreis Lörrach die Durststrecke meistern?

Das ist meines Erachtens die spannende Frage. Entscheidend werden die Monate Juli und August. Ich denke, dass manche Betriebe, die bereits im Frühjahr angeschlagen waren und im vergangenen Jahr kritische Bilanzen aufwiesen, das Nachsehen haben werden. Spannend wird der Sommer, weil dann Unternehmen von Schließungen betroffen sein könnten, deren Rücklagen aufgebraucht sind.

Frage: Die Aussichten sehen alles andere als gut aus.

Wir verzeichnen einen enormen Anstieg der Arbeitslosigkeit, was sich zum Teil in den Bereichen Maschinenbau und Automobilzulieferindustrie bereits vor der Pandemie entwickelte. Der jetzt beobachtete Zuwachs hat weniger mit unmittelbar coronabedingten Entlassungen zu tun, sondern mit dem Auslaufen befristeter Arbeitsverträge, weil Unternehmen derzeit keine Einstellungen vornehmen. Von einer Entlassungswelle können wir derzeit noch nicht sprechen. Kurzum: Wenn die Konjunktur in diesem Sommer nicht anzieht, dann kommen noch schlimmere Zeiten auf uns zu.

Frage: Wie ist die Stimmung bei den Unternehmen im Landkreis Lörrach?

Wir hören viel Dankbarkeit in Sachen Kurzarbeitergeld und wie unkompliziert und unbürokratisch geholfen wird. Hier und da gibt es überdurchschnittlich Massenentlassungen, insgesamt aber ist die Lage nicht dramatisch.

Frage: Das alles passiert in einer Zeit, in der Sie in Lörrach die Zelte abbrechen und die Führung der Freiburger Agentur für Arbeit übernehmen. Ungünstiger hätte es kaum kommen können.

Man darf sich nie so wichtig nehmen (lacht). Wir haben Routinen, die Prozesse sind etabliert und laufen. In diesen Zeiten merkt man ganz deutlich, dass man die Kollegen arbeiten lassen muss. Dann sind wir erfolgreich.

Frage: In Lörrach haben Sie bei Ihrem Antritt einen stabilen Arbeitsmarkt vorgefunden und eine robuste Konjunktur. Welche Herausforderungen erwarten Sie nun an Ihrer neuen Wirkungsstätte?

Ich treffe nun auf zwei Landkreise, die ähnlich strukturiert sind, ähnliche Arbeitsmärkte mit Industrie, Gastronomie und Tourismus und einer Stadt Freiburg, die zu 90 Prozent Beschäftigte in der Verwaltung und Dienstleistung aufweist – also ein ganz anderer Arbeitsmarkt, der wesentlich stabiler und konjunkturunabhängig ist.

Zum Vergleich: Lörrach zählt in der Gesundheitsbranche knapp 4000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, Freiburg mehr als 30 000. Derweil arbeiten im Einzelhandel 17 000 Menschen, in Freiburg 19 000. Durch Schweiz und Frankreich brummt der Einzelhandel enorm.

Frage: Die Abhängigkeit bekommt die Region aufgrund geschlossener Grenzen deutlich zu spüren.

Richtig, es gibt aber noch weitere Risiken: Zum einen gibt es in unserer Region zahlreiche Automobilzulieferer, die vor einer ungewissen Zukunft stehen. Und: Wenn in der Schweiz, in der 35 000 Grenzgänger arbeiten, der Konjunkturmotor stottert, bekommen wir genauso schnell Probleme. Die Freiburger Agentur zählt derweil nur 2500 sozialversicherungspflichtig beschäftigte Grenzgänger.

Frage: Lassen Sie uns einen Blick auf Ihre Zeit als Leiter der Lörracher Agentur für Arbeit werfen und Bilanz ziehen. Was nehmen Sie an Erkenntnissen mit nach Freiburg?

Da gibt es eine klare Botschaft: Wir Institutionen müssen unser Standardgeschäft professionell selbst regeln. Indes können wir die wirklich großen Schwierigkeiten nur gemeinsam lösen.

Frage: Im Gespräch mit unserer Zeitung haben Sie in der Vergangenheit stets betont, dass das Arbeiten in Netzwerken für Sie von großer Bedeutung ist, um strukturelle Änderungen zu erreichen, zum Beispiel in den Bereichen Langzeitarbeitslosigkeit, Fachkräftemangel, Kinderbetreuung, damit eine Arbeit aufgenommen werden kann, oder Mobilität. Konnten Sie Ihre Ziele erreichen?

Teils, teils. Ich bedauere, dass wir beim Thema Azubiwohnheim keinen Schritt weitergekommen sind. Das wäre ein tolles Projekt geworden, sowohl für junge Menschen, die für Schule oder Ausbildung eine andere Umgebung als ihr Elternhaus bräuchten, als auch jene, die in die Region ziehen, um eine Ausbildung zu starten. Das ist leider nicht gelungen. Hierfür braucht es viele Mitstreiter, die an einem Strang ziehen.

Enorme Fortschritte haben wir beim Thema Langzeitarbeitslosigkeit erzielt. Wie die Rückschläge sein werden, können wir nur erahnen. Ansonsten haben wir das Jobcenter strukturell neu aufgestellt und mit Waldshut die Zusammenarbeit intensiviert.

Frage: Sie haben mit Ihren Ideen nicht immer offene Türen eingerannt, sondern mussten bisweilen dicke Bretter bohren.

Stimmt! Dabei war es mir ein Anliegen, zu vermitteln, dass Veränderung nicht gleich Verlust bedeutet. Wenn man voneinander lernt, aufeinander achtet und zusammenhält, kann man viel erreichen. Diese Erkenntnis nehme ich mit nach Freiburg. In Zeiten, in denen die Wirtschaft brummt, ist die Veränderungsbereitschaft bei Unternehmen gering. Ich denke, es braucht Krisen, um neuen Schwung zu kriegen. Das zeigt sich auch in unserer Agentur, wo die Digitalisierung diesen erhalten hat.

Frage: Was können Sie mit Blick auf die Besonderheiten der Region Ihrem Nachfolger mitgeben?

Mein Nachfolger, Horst Eckert, ist Kind der Region und hier aufgewachsen. Er weiß also um die Besonderheiten und ist bestens vernetzt. Allerdings habe ich ihm mein Führungsverständnis mitgegeben, nämlich zu sagen: Führen ist dienen! Führungskräfte müssen unseren Kollegen helfen, erfolgreich arbeiten zu können. Nicht umgekehrt! Das war und ist Maxime meines Handelns. Ebenso transparent zu sein, auch gegenüber der Presse.

Der Agentur für Arbeit Lörrach sind im April 9180 Arbeitslose gemeldet worden. Für März und April gingen 3795 Kurzarbeitanzeigen für 45 088 Arbeitnehmer ein.

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