Kreis Lörrach Jenseits des Weihnachts-Idylls

Gabriele Hauger
Der Elsässer Autor Martin Graff. Foto: Archiv

Buchkritik: „Geschlossene Gesellschaft“ von Martin Graff: von  skurril  über heiter bis  nachdenklich.

Regio - Auf dem Titelbild prangt ein bunter, fast kitschig-schöner Weihnachtsbaum inmitten einer verschneiten Winterwunderlandschaft. Doch die Idylle wird gebrochen: Denn im Vordergrund erhebt sich ein schwarzer Stacheldrahtzaun, davor eine Mutter mit zwei Kindern – Flüchtlinge.

Zwei mal hinschauen

Man muss nicht zwei Mal hinschauen, um die Botschaft zu verstehen: Es geht um Ausgrenzung, Abschottung, Flucht, Grenzziehung – aktuelle Phänomene, die konträr zur eigentlich so friedlichen, mitmenschlichen Weihnachtsbotschaft stehen.

„Geschlossene Gesellschaft“ heißt die 106-seitige Geschichtensammlung des elsässischen Autors Martin Graff, der auch Pfarrer, Autor, Filmemacher und Kabarettist ist. Es ist bereits das zweite Mal, dass sich Graff dem Thema Weihnachten in Buchform widmet.

Identität nur mühsam bewahren

Jeder der 14 Geschichten ist ein Vorspann vorgestellt, in dem Graff Persönliches als Einordnung zur folgenden Handlung erzählt. Gleich zum Auftakt in „Geschlossen wegen Glaubensurlaub“ zeigt er anhand eines kurzen Abrisses seiner elsässischen Familiengeschichte, wie beliebig Grenzen gezogen werden – und welche Konsequenzen das für den Einzelnen haben kann. Als Elsässer ist er mit dieser Frage aufs beste vertraut, stammt er doch aus einer Region, die ihre Identität nur mühsam bewahren kann, hin- und hergerissen zwischen Deutschen und Franzosen.

Nach dieser Einführung folgt die eigentliche Geschichte: ein mittelmäßiger Pfarrer, bescheidener Prediger, unauffällig, nicht besonders heldenhaft. Doch dieser eher stille Mann setzt ein aufsehenerregendes Fanal: „Wegen Glaubensurlaub geschlossen“ schreibt er an seine Kirchentür – und verschließt den ach so gläubigen Christen am Weihnachtstag die Kirchentore. Was zu heller Empörung führt. Per Megafon fordert der Pfarrer die entrüsteten ausgesperrten Kirchenbesucher auf, ihre Geschenke und Gaben an Kinder aus Somalia zu spenden. Doch niemand folgt seinem Aufruf, nur ein alter Clochard verschenkt sein letztes Hab und Gut.

Mit Ironie über die Wohlstandsgesellschaft

Auf den ersten Blick plakativ, versteht es Graff, die geizige Wohlstandsgesellschaft zu enttarnen, die die mitmenschliche, liebevolle Weihnachtsbotschaft des Schenkens zur Farce werden lässt. Die Herzen der Europäer bleiben verschlossen.

Ebenso in „Champagner für alle“. Hier schildert er den geradezu abstoßenden Reichtum eines Fußballstars, der auf Mallorca Sektorgien feiert inmitten einer neureichen, oberflächlichen Gesellschaft. In Sichtweite dieser exzessiven Weihnachtsparty spielt sich ein Drama ab: Flüchtlinge ertrinken – den mit Champagner gefüllten Pool quasi zum Greifen nahe.

Skurril und fantastisch überspitzt, aber auch geradezu philosophisch wird Graff in „Die Vierschanzentournee“. Skispringer Jens startet hier von der Schanze auf einen zweijährigen Flug über die Welt. „Von oben sieht man alles besser, das Schöne und das Hässliche“, sagt er nach seiner Rückkehr. Gesehen hat er auf seinem Flug vor allem Mauern: In Korea und zwischen Israel und Palästina; zwischen Mexiko und den USA; zwischen Serbien und Ungarn. Und Jens verkündet die naive wie auch zutiefst mitmenschliche Botschaft: „Diese Mauern sind immer die Folge der geistigen Mauer, die in unsere Seele wächst. ... Ich werde versuchen, in Zukunft diese Mauern niederzureißen. Das ist die Aufgabe jedes Christen.“ Schön. Utopisch.

„Ich warte auf meine Seele“

Um einen Flüchtling dreht sich „Ich warte auf meine Seele“ nur oberflächlich. Ironisch und überspitzt wird hier das Manager-Leben von Harald, stets auf der Überholspur, geschildert. Er lebt zwischen Luxus und Geschäft – schneller als sein Schatten. Das Ganze muss ein böses Ende nehmen. Da wird der Autor schön sarkastisch.

Martin Graff pflegt einen ganz eigenen Stil mit Wiedererkennungswert: zwischen überspitzt und skurril, heiter bis nachdenklich, dringt durchaus große Ernsthaftigkeit durch. Aktuell werden Zeitströmungen aufgegriffen von der AfD und dem Front National bis zur Tourismus-Plage; es werden kenntnisreich historische Vergleiche gezogen und ein guter Schuss Philosophie eingebracht. Neben einer gewissen Melancholie dringt immer wieder moralische Wut durch die Zeilen, ein energischer Weckruf an uns alle – gerade in der Weihnachtszeit.   Martin Graff: „Geschlossene Gesellschaft“, Wellhöfer Verlag, 106 Seiten, 14 Euro

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