Kandidateninterview: Jörg-Uwe Sanio (Linke) Pflegenotstand beheben

Die Oberbadische
Will dem „Mietenwahnsinn“ ein Ende bereiten: Jörg-Uwe Sanio Foto: zVg

Landtagswahl 2021:

Frage: Herr Sanio, bei der Landtagswahl 2016 hat Die Linke mit 2,9 Prozent abgeschnitten. Aktuellen Umfragen zufolge liegt sie zwischen drei und vier Prozent. Sind Sie zuversichtlich, dass Ihre Partei im März über die Fünf-Prozent-Hürde kommt?

2,9 Prozent war gestern, wir holen zügig auf. Wir stehen derzeit bei etwas mehr als vier Prozent. Schauen wir mal, bis zur Wahl sind es noch zwei Wochen.

Frage: Falls Sie für den Wahlkreis Lörrach in den Landtag ziehen sollten, für welche dringlichen Anliegen in der Region wollen Sie im politischen Stuttgart kämpfen?

Ich werde mich für die konsequente Anwendung bestehender Baugesetze einsetzen, das schafft preiswerten Wohnbau – auch in der Regio. Ein weiteres Anliegen ist die unbefristete Anstellung einer ausreichenden Zahl an Lehrern, und zwar im Volldeputat zu A 13. Damit gehören Fehlstunden und Wissenslücken der Vergangenheit an. Auf der Agenda steht auch, die Wiesental-, Kandertal- und Hochrheinbahn konsequent für einen vollgültigen ÖPNV und Fernverkehr zweigleisig vollelektrifiziert auszubauen.

A 98 jetzt! Die Dinkelbergautobahn muss nach 60 Jahren der Planung endlich für eine Verkehrsentlastung sorgen. Eine neue gerade L 139 zwischen Rheinfelden und Schopfheim zur effizienten Verbindung der zwei Oberzentren und dem Oberen Wiesental ist überfällig.

Weiterhin müssen jeweils die B 317 als voll gültige Umfahrung und die Wiesentalbahn zweigleisig über Zell hinaus bis nach Schönau gebaut werden. Das Projekt der B 317 als Umgehungsstraße von Zell mit Atzenbach und Schönau ist vor 60 Jahren geplant, aber nie weiter betrieben worden. Auch die Bahn führte nicht in Neuland hinein, bis 1968 fuhr eine eingleisige Schmalspurbahn, das „Todtnauerli“, sogar bis ins besagte Todtnau hinein.

Frage: Die dezentrale medizinische Versorgung liegt Ihnen am Herzen. Sehen Sie den mit dem Bau des Zentralklinikums Lörrach eingeleiteten Konzentrationsprozess der Gesundheitsversorgung im Landkreis denn kritisch?

Abgehängt werden dabei das Obere und das Kleine Wiesental, aber auch das relativ große Rheinfelden mit Schwörstadt und Wehr bei der Notfall- und Altersversorgung. Die Rettungswege werden zu lang, und bei den chronisch verstopften Straßen wird Zeit zu einem dringlichen Überlebensfaktor.

Frage: Im Raum Lörrach drohen langfristig die Hausärzte knapp zu werden. 45 Prozent der hier praktizierenden Hausärzte sind älter als 60 Jahre. Was wollen Sie unternehmen, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken?

Die Verwaltungsverbände müssen eigene Ärztezentren mit gemeinsamen Labor- und Verwaltungsleistungen in den drei jetzigen Kreiskliniken nach dem Bau des Zentralklinikums einrichten und jeweils ein neues im Oberen und Kleinen Wiesental bauen. Dann wird Arztsein auf dem Land wieder attraktiv.

Frage: Pflegeberufe in Deutschland werden schlecht bezahlt. Die Linke fordert daher eine bessere Entlohnung für Menschen in sozialen Berufen. Lässt sich der Pflegekräftemangel allein durch eine höhere Bezahlung beheben?

Nein! Zur höheren Bezahlung müssen auch mehr Pflegekräfte eingestellt und Arbeitsschichten auf acht Stunden sowie fachliche Patientenbetreuungen pro Pfleger begrenzt werden.

Frage: Viele soziale Einrichtungen sind in kommunaler Trägerschaft. Durch die Pandemie ist der Haushalt der öffentlichen Hand schwer in Schieflage geraten. Kommt der Ruf Ihrer Partei nach mehr Gehalt da nicht gerade zur Unzeit?

Die Linke hat im Bund ein durchgerechnetes Konzept für eine solidarische Gesundheitsversicherung vorgelegt, nach dem der Beitrag auf unter zwölf Prozent sinken kann, wenn alle einzahlen und die Beitragsbemessungsgrenze aufgehoben wird. Damit würden Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die wie bisher paritätisch einzahlen, entlastet. Zugleich könnten der Leistungskatalog ausgeweitet und auf bürokratisch wie finanziell belastende Rezeptgebühren und Ähnliches verzichtet werden. Mit dem Mehr in der Kasse kann der Pflegenotstand durch Personalmangel mit mehr Gehalt und mehr Pflegekräften zu wesentlich besseren Arbeitszeiten behoben werden.

Frage: Um die Mobilitätswende voranzutreiben, fordern Sie einen steuerfinanzierten und fahrscheinlosen ÖPNV. Warum soll er nicht mehr nur für diejenigen Geld kosten, die ihn auch wirklich nutzen? Wie hoch müsste die Steuer ausfallen, um damit gerechtere Löhne der Angestellten im ÖPNV finanzieren zu können?

Der bis in den letzten Winkel vorzudringende ÖPNV ist ein existenzielles Lebensgut unter anderem als Baustein in der Klimawende und muss daher wie die öffentlichen Straßen, Wege und Plätze der Allgemeinheit zur Verfügung stehen. Wir sind dafür, dass mit der KFZ- und Mineralölsteuer sowie der LKW-Maut die Verkehrswege Straße, Bahn, Wasser, Luft sowie Strom und Internet zweckbestimmt finanziert werden.

Frage: Wohnen muss wieder für die breite Masse erschwinglich sein, fordert die Linke. Wie könnte dies konkret im Landkreis Lörrach erreicht werden? Setzen Sie dabei auch hier auf das Mittel Enteignung?

Enteignung ist die finale Option eines Gesetzes, das nicht erst erfunden werden muss. Das Baugesetzbuch in seiner Fassung seit 2004 erlegt Grund- und Hausbesitzern mit einem Bebauungsplan und dem Baugebot die Bebauung und Nutzung auf, und zwar mit den Wohnungen, die wir dringend brauchen. Bei weiterer spekulativer Unwilligkeit kommt das „Entwicklungsgebiet“ zum Einsatz mit Ausgleichsbeiträgen in mitunter happiger Höhe. Die Enteignung erfolgt erst bei totaler Blockade. Der ganze Prozess ist völlig ideologiefrei einstmals vor rund 30 Jahren in von CDU-FDP-dominierten Städtetagen und mit der SPD in die Legislative gebracht worden.

Frage: Wie konnte es überhaupt soweit kommen, dass mit Immobilien so viel spekuliert wird? Sie sind selber Kaufmann für Immobilien. Ist die Branche gieriger geworden?

Noch vor 30 Jahren galt die Devise „Leben und leben lassen“. Mieten machten nicht mehr als 35 Prozent vom Einkommen eines Haushalts aus, und Eigentumswohnungen und Häuser waren für knapp 2200 Euro pro Quadratmeter zu haben. Mieten, Grundstücks- und Baupreise sind seitdem um 380 Prozent gestiegen, die Löhne nahezu gleich geblieben. Gewinner sind die Baustoffhersteller, Wohnungsbauer und Vermieter.

Verlierer dieser ungehemmten Gier sind Mieter, Käufer und die Niedriglöhner vom Bau. Zu den Verlierern gehört auch die öffentliche Hand, die jedes Jahr zu den ohnehin überteuerten Erstellungspreisen auch bei laufenden Projekten jährliche Preissteigerungen ab 5,5 Prozent hinnehmen muss.

Frage: Vom Lockdown sind insbesondere Kinder und Jugendliche betroffen, die durch Schließung der Schulen, Vereine und Sportstätten in ihrer Sozialisation beeinträchtigt werden. Befürchten Sie dadurch einen bleibenden sozialen Schaden für die Gesellschaft?

Die Lage ist ernst. Im Jahr 2010 waren es rund 1,7 Fehltage pro Arbeitnehmer, im vergangenen Jahr etwa 2,6. Quer durch die Bevölkerung leiden wir alle unter den Pandemie-Einschränkungen. Ein psychischer Krankheitsfall dauert im Schnitt 39 Tage – so lange wie noch nie seit Beginn der jährlichen Datenerhebung 1997. Rund 18 Prozent der Deutschen nennen die psychischen Folgen als größte Sorge in der Corona-Pandemie.

Frage: Ihre politische Laufbahn haben Sie 1986 bei der Jungen Union begonnen und waren anschließend Mitglied bei der CDU. Warum sind Sie letztendlich ans linke Ende des politischen Spektrums gerückt?

CDU und JU waren mit dem Grundsatzprogramm von 1978, linker als ihnen jetzt vorgeworfen wird, sie hätten aktuell damit ihr Profil verloren. Diesem Grundsatzprogramm haben beide alternativlos abgeschworen. Das „C“ könnte als unzutreffend gestrichen werden. Tilman Kuban, Bundesvorsitzender der Jungen Union, zeigt mehr als deutlich die Richtung seiner Partei, wie man auch am rechten Rand gewinnbringend entlang schrappen kann.

Frage: Nennen Sie bitte drei Dinge, die Sie als Linker ändern würden, wenn Sie Teil einer Regierungskoalition wären.

Baden-Württemberg muss sich besinnen, Lehrer unbefristet im Volldeputat für die Bildungsoffensive einzustellen. Dann braucht es neben dem Mehr an Pflegern in unseren Krankenhäusern mehr Polizei auf unseren Straßen für einen bürgernäheren Kontakt als Kameras dies jemals ermöglichen könnten. Drittens: Dem Mietenwahnsinn als sozialer Bedrohung muss ein Ende bereitet werden.

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