Die alemannische Mundart seiner Kindheit wurde ihm nun in seinen Gedichten zur inneren Heimat. Zugleich konnte er in dem ergreifenden Gedicht „Die Vergänglichkeit“ den Abschied von seiner Mutter vollenden, deren frühes Sterben er als Bub von 13 Jahren „auf der Straße zwischen Steinen und Brombach“ erleben musste.
Zeitfragen, Praxis und neue Einblicke
Die Bände V und VI der neuen Ausgabe übernehmen die zweibändige Ausgabe der Briefe Hebels von Wilhelm Zentner aus dem Jahre 1957 praktisch unverändert. Für „einzelne Briefe“, die seitdem in der Badischen Landesbibliothek nachgewiesen werden, wird auf Digitalisate der dortigen Autografensammlung verwiesen. Hier wären ein paar ergänzende Angaben hilfreich, denn Hebels Schrift ist für die heutige Leserschaft nicht so leicht entzifferbar.
Die für die vorliegende Ausgabe ausgewählten theologisch-kirchlichen Texte sind in Band IV zusammen mit allen anderen Texten Hebels außerhalb der Kalender chronologisch geordnet, sodass eine bunte Vielfalt von geistlichen und weltlichen Themen angesprochen wird.
Besonders interessant ist hier Hebels „Tagebuch der Schweitzerreise“, die er vom 22. August bis 22. September 1805 als Mentor zweier junger Barone unternahm. Hier schildert Hebel nicht nur die Schönheit der Landschaften und Orte, sondern auch Gewerbefleiß und freiheitliche Gesinnung der Bürger als Quellen des Wohlstandes.
Das Hebel-Bild wird abgerundet durch die in Band II erstmals publizierten Exzerpte, die in bunter, ungeordneter Folge alle möglichen theoretischen und praktischen Fragen seiner Zeit behandeln und einen Einblick in die Arbeitsweise des Kalendermachers und Pädagogen am Karlsruher „Gymnasium illustre“ erlauben.
Ebenfalls neu ist der „Proteus-Komplex“, der die schriftlichen Zeugnisse des Lörracher Freundeskreises (oder Geheimbundes) der „Proteuser“ umfasst. Er enthält eine Reminiszenz Hebels an eine gemeinsame Belchen-Besteigung mit seinem lebenslangen Freund Friedrich Wilhelm Hitzig; dieser Schwarzwaldberg galt als „Altar des Proteus“ und als „erste Station von der Erde zum Himmel“.
Die umfangreiche kommentierte Textsammlung schließt mit einem Lebensbild Hebels, einem Editionsbericht sowie einem umfangreichen Literaturverzeichnis, Danksagungen, dem Inhaltsverzeichnis und einem Personenregister. So wie Hebel in seinen Gedichten und in seinen Kalendergeschichten stets alle gesellschaftlichen Schichten ansprach, so wendet sich die Kommentierte Lese- und Studienausgabe an alle, die heute ein Interesse an Werk und Person des Dichters haben.
Vielleicht liefert ein großer Absatzerfolg bald den Anlass zu einer Neuauflage; da könnte man über zahlreiche Verbesserungsmöglichkeiten, wie Bildzugaben über Hebel und sein Leben oder allfällige Berichtigungen der Textzuschreibung, nachdenken.
Johann Peter Hebel: Kommentierte Lese- und Studienausgabe in sechs Bänden, Herausgegeben von Jan Knopf, Franz Littmann und Hansgeorg Schmidt-Bergmann, 3712 Seiten, 69 Abbildungen, Leinen, Göttingen: Wallstein-Verlag 2019, ISBN 978-3-8353-3256-0, 69 Euro