Kreis Lörrach „Wir wollen Teilhabe ermöglichen“

Michael Werndorff
Hat die Lebenshilfe Lörrach geprägt: Geschäftsführer Helmut Ressel. Foto: Michael Werndorff

Interview: Helmut Ressel, derzeitiger Geschäftsführer der Lörracher Lebenshilfe, verabschiedet sich.

Kreis Lörrach - Helmut Ressel hat 37 Jahre lang die Lebenshilfe Lörrach in verschiedenen Bereichen geprägt und gestaltet – seit 2008 als Geschäftsführer. Nun steht seine offizielle Verabschiedung an. Im Vorfeld sprach Redakteur Michael Werndorff mit Ressel über die Behindertenhilfe, über die gesellschaftlichen Veränderungen und über die Herausforderungen, die es im Umgang mit Betroffenen noch zu meistern gilt.

Frage: Herr Ressel, welche Bilanz ziehen Sie einerseits für sich persönlich und andererseits für die Lebenshilfe im Kreis Lörrach?

Ich sehe meinen Rückzug als Geschäftsführer mit einem weinenden Auge, weil ich die Arbeit sehr gerne gemacht und mich vor 37 Jahren bewusst dafür entschieden habe, bei der Lebenshilfe zu arbeiten. Mit den Aufgaben ist im Laufe der Jahre auch die Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten gewachsen. Was die Lebenshilfe betrifft: Diese wurde vor 50 Jahren von Eltern behinderter Kinder als Selbsthilfevereinigung ins Leben gerufen. Seither hat sich viel getan. Als ich anfing, arbeiteten in unserer Werkstatt 80 Mitarbeiter, mittlerweile sind es 350 Menschen.

Frage: Wie sah die Entwicklung der Lebenshilfe in Lörrach aus?

Die Lebenshilfe hat wichtige Etappen hinter sich. Die erste Phase endete mit der Eröffnung einer Werkstatt, dem Bau eines Wohnheims, der Frühförderung und der Tagesstätte für Menschen mit hohem Hilfebedarf. Das war sozusagen der Grundstein für die weitere Entwicklung. So hatten Betroffene Arbeits- und Wohnmöglichkeiten. In der zweiten Phase erfolgten eine Bedarfsanpassung, Erweiterungen sowie Differenzierungen des Angebots entsprechend den individuellen, persönlichen Wünschen und Bedürfnissen.

Frage: Und worauf sind Sie besonders stolz?

Kurzum: Was die Lebenshilfe Lörrach bis heute ausmacht. Eine klare Positionierung, dass wir für Menschen mit Behinderung eine Lebenssituation schaffen wollen, die auch eine Teilhabemöglichkeit in der Gesellschaft im Auge hat. Zwischenzeitlich haben wir einen großen Beitrag dazu geleistet.

Auch bei unseren Dienstleistungen waren und sind wir dabei, innovative Dinge zu tun, die diesem Ziel der Teilhabe näherkommen. Das macht unseren Erfolg aus. Besonders stolz bin ich auf das Glashaus, unseren gastronomischen Betrieb mitten in Lörrach, wo zehn Menschen einen Arbeitsplatz gefunden haben. Dort ist das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung erlebbar. Und wirtschaftlich funktioniert es auch.

Frage: So viele Jahre im Dienst für Mitmenschen. Wie hat Sie das geprägt?

Mit den wachsenden Aufgaben bin ich auch in meiner Persönlichkeit und Kompetenz gewachsen. Ich denke auch, dass ich den Anforderungen im Großen und Ganzen gerecht werden konnte.

Frage: Im langen Bestehen der Lebenshilfe hat es bestimmt besonders wichtige Ereignisse gegeben?

Beeindruckend war zum Beispiel die Möglichkeit, für unsere Werkstatt Außenarbeitsgruppen einrichten zu können, zunächst 1994 bei der Firma Gaba, dann drei Jahre später bei Migros, die bis heute in der Kooperation mit REWE noch besteht. Und natürlich der Aufbau des Angebots der ambulanten Wohnbegleitung im Kreis Lörrach.

Und im Jahr 2005 waren wir Modellstandort für die Eingliederungsmaßnahme „Kooperative Bildung und Vorbereitung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt“. Das war sehr erfolgreich und ist mittlerweile in ganz Baden-Württemberg flächendeckend eingeführt. Seit dem Bestehen wurden über diesen Weg rund 100 Menschen in den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt.

Frage: Und die neue Werkstatt in Haagen?

Ein Schlüssel für die weitere Entwicklung der Lörracher Lebenshilfe war die Eröffnung unserer neuen Werkstatt in Haagen. Dort haben wir jetzt auch Raum für Menschen mit hohem Hilfebedarf. Zum Glück hatten wir viele Unterstützer, und die Sparkasse hat damals hohes Vertrauen in unsere Ideen gehabt, wirtschaftlich standen wir nämlich am Rande unserer Möglichkeiten.

Frage: Wo Licht ist, gibt es auch Schatten. Was hat Ihnen in Ihrer Karriere zu schaffen gemacht oder Sie vielleicht enttäuscht?

Wir haben viele Dinge erfolgreich auf den Weg gebracht, was sicherlich auch auf die Offenheit der Kreisverwaltung zurückzuführen ist. Tiefschläge für uns gibt es aber auch, und zwar dann, wenn gesetzliche Abläufe das blockieren, was wir umsetzen wollen. Frust erzeugt derzeit das Bundesteilhabegesetz.

Frage: Können Sie das konkretisieren?

Ziel des Gesetzes ist, dass Menschen mit Behinderung mehr selbst bestimmen können, aber auch die finanzielle Last, die behinderte Menschen in der Gesellschaft verursachen, zu begrenzen.

Von einem gelungenen Gesetz kann jedenfalls keine Rede sein. Der Bürokratiemehraufwand ist unglaublich hoch. Am problematischsten ist das BTHG für unsere Werkstatt, in der wir auch Menschen mit hohem Hilfebedarf einen Zugang geschaffen haben. Da hat das Gesetz entschieden, dass dies nicht sein soll. Die größte Gefahr für uns besteht darin, dass wir in eine Welt zurückgeholt werden, die wir eigentlich schon überwunden hatten.

Frage: Die Lebenshilfe wurde vor mehr als 50 Jahren von Eltern behinderter Kinder als Selbsthilfevereinigung gegründet, weil es an Unterstützung fehlte. Was ist das derzeit wichtigste Anliegen? Inklusion?

Inklusion ist ein neuer Begriff. In der Geschichte der Lebenshilfe ist das immer schon ein Pfad gewesen, den wir verfolgt haben.

Mein Ziel bei meinem Eintritt in die Lebenshilfe war: So wenige Sondereinrichtungen wie möglich! Eine Werkstatt ist wichtig, jedoch als Ort, um Menschen mit Behinderung eine grundsätzliche Teilhabemöglichkeit und den Weg in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen.

Frage: Wie hat sich der fachliche und gesellschaftliche Umgang mit Behinderten verändert?

Der hat sich kolossal geändert! Schaut man sich die Vorstellungen der Sonderpädagogik an, erkennt man den Paradigmenwechsel. So haben Fachleute in den 1980er Jahren noch geglaubt zu wissen, was Menschen mit Behinderung brauchen. Direkt gefragt wurden die Betroffenen aber nicht. Als ich mit meiner Arbeit begann, war es eine Leistung, mit Behinderten durch die Stadt zu gehen. Wir zogen alle Blicke auf uns. Das ist glücklicherweise Vergangenheit und kein Thema mehr.

Frage: Wie ist dieser Paradigmenwechsel in den vergangenen Jahren gelungen?

Zum einen haben die Fachleute ihre Einstellung nach und nach geändert, zum anderen haben sich die Strukturen geändert, die das Leben der Behinderten bestimmen. Von dem Sorge- und Versorgungsgedanken hat man sich nach und nach verabschiedet. Über die Jahre haben wir sehr viel von Behinderten gelernt und sehr viel Vertrauen gewonnen, was sie selber können. Auch für mich persönlich war das ein unglaublicher Prozess. Ich hätte vor 37 Jahren nie geglaubt, wo wir mit der Lebenshilfe heute stehen. Und wir sind in der Entwicklung sicher noch nicht am Ende.

Frage: Sicherlich haben auch wirtschaftliche Motive und Überlegungen zu dieser Neuausrichtung beigetragen.

Ja. Für den Kostenträger ist ambulantes Wohnen oftmals günstiger. Auch eine Tätigkeit Betroffener auf dem Arbeitsmarkt erspart die Betreuungskosten einer Werkstatt. Behindertenhilfe ist eben auch ein wirtschaftliches Thema.

Frage: Auch hier hat die Medaille zwei Seiten.

Richtig! Die Nagelprobe ist zum Beispiel, wenn ein Mensch mit höherem Hilfebedarf auch den Wunsch hat, selbstständig zu leben und nicht in einem Heim. Dann steht die Ressourcenfrage im Raum, ob man Behinderten auch dann diese Lebensform anbieten will, wenn es mehr kostet.

Frage: Inklusion ist ein großes Thema (Stichwort Schulen). Dabei flammt auch immer wieder die Debatte um ihre Grenzen auf. Wann stößt das Zusammenleben von Behinderten und Nichtbehinderten an Grenzen?

Deutschland war in keiner Weise vorbereitet auf eine inklusive Beschulung. Von einem auf den anderen Tag in die Inklusion zu starten, ist nicht realistisch. Wenn die Strukturen nicht gegeben sind, kann Inklusion schwerlich gelingen. So wie wir Bezugspersonen in Sachen Arbeit und Wohnen begleiten, so muss auch in der Schule die Begleitung funktionieren. Lehrer müssen bei diesem Prozess unterstützt werden. Es muss dazu von allen Seiten eine grundsätzliche Bereitschaft bestehen, sonst gelingt es nicht. Kurzum: Die Schule muss sich verändern und sich der neuen Situation anpassen, und das ist natürlich eine Herausforderung, die man gerne übersieht. Das gesamte Schulsystem ist gefordert, sich neu zu definieren und Themen wie soziales Lernen als Teil ihrer Aufgabe zu verstehen.

Frage: Und wie steht es derzeit um den Erkenntnisprozess?

Der schulische Apparat braucht noch viel Kompetenzentwicklung und Ressourcen! Das fängt in der Lehrerausbildung an, bei der heute Inklusion noch keine wirkliche Rolle spielt. Wenn sich die Grundlagen nicht ändern, kann die Inklusion von behinderten Schülern nicht gelingen. Wo es gelingt, stehen engagierte Menschen dahinter.

Frage: Wo sehen Sie dringenden Handlungsbedarf seitens der Bundes- und Lokalpolitik für Menschen mit Behinderung?

Ein Handlungsfeld sehe ich bei Senioren mit Behinderung. Auch hier gibt es Menschen mit viel und wenig Hilfebedarf, für die auch im Landkreis Lörrach Konzepte erarbeitet werden müssen. Auch was Menschen mit hohem Hilfebedarf angeht, besteht dringender Handlungsbedarf, um für diese stetig wachsende Gruppe angemessene Tages- und Wohnangebote zu schaffen.

Frage: Abschließende Frage: Welchen Ratschlag wollen Sie ihrem Nachfolger mit auf den Weg geben?

Ich kann ihm nur wünschen, dass er die Kraft und Energie hat, auf dem Weg zu bleiben, den er eingeschlagen hat.

Für die Lebenshilfe ist es ein Glücksfall, mit Philipp Bohner jemanden gefunden zu haben, der neben den Geschäften auch unsere Ideen gut weiterführen wird.

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