Aus ukrainischer Perspektive ist das nachvollziehbar. In dem Land sterben in Russlands grausamen Krieg tagtäglich Soldatinnen und Soldaten, Raketen regnen vom Himmel, der Strom fällt immer wieder aus und schon bald dürfte Russland eine neue Offensive starten. Auch für die Bürgerinnen und Bürger geht es ums Überleben - und eben nicht darum, ob sie sich statt Butter nur noch Margarine aufs Brot schmieren. Am Nachmittag machte Selenskyj beim EU-Gipfel dann auch deutlich, dass sein Land im Kampf gegen Russland unbedingt Kampfjets braucht. "Ich habe kein Recht, ohne Ergebnisse nach Hause zu kommen", sagte er.
Doch für die Europaabgeordneten und die Staats- und Regierungschefs gilt, dass im kommenden Jahr Europawahlen sind. Spätestens dann werden alle pro-ukrainischen Parteien vermutlich genau erklären müssen, warum und in welchem Umfang die Ukraine weiter unterstützt werden muss.
In London fällt der Dank größer aus
Im Parlament und beim EU-Gipfel war von dieser Herausforderung am Donnerstag nur am Rande die Rede. Die Abgeordneten zollten Selenskyj für seine Rede langen und begeisterten Applaus. Stolz waren viele im Parlament, dass sich Selenskyj dafür entschied, erst dort zu sprechen und dann erst als Gast beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs aufzutauchen.
Jene, die Selenskyjs Reden am Vortag in London gehört hatten, dürften aber auch gespürt haben, dass die EU aus Sicht der Ukraine in Sachen Unterstützung in einer anderen Liga spielt als Großbritannien. In London hatte sich Selenskyj leidenschaftlich gezeigt, es gab Sätze wie diesen: "Großbritannien, Sie haben Ihre Hilfe ausgebaut, als die Welt noch nicht verstanden hat, wie man reagiert." Oder diesen: "London steht seit dem ersten Tag an der Seite von Kiew. Von den ersten Sekunden und Minuten des totalen Krieges." Vergleichbares gab es nun in Brüssel nicht von ihm zu hören.
Die EU zeigt sich nicht wirklich einig
Ein Affront? EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wies am Nachmittag in einer Pressekonferenz mit Selenskyj darauf hin, dass die EU bereits Unterstützung in Höhe von 67 Milliarden Euro mobilisiert habe. Zugleich räumte sie ein: "Wir müssen noch mehr tun".
Von der Leyen weiß, dass dies in den kommenden Monaten eher schwerer als leichter werden wird. Entscheidungen in der EU lassen sich nicht so einfach treffen wie in einem Nationalstaat wie Großbritannien. Es gibt Länder wie Ungarn, die nicht auf russisches Öl und russische Atomkraftwerke verzichten wollen oder solche wie Deutschland, die keine Kampfflugzeuge an die Ukraine abgeben wollen.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte gestern beim Gipfel gesagt, es gehe darum, ein "Zeichen der Solidarität und der Einigkeit" bei der Unterstützung der Ukraine setzen. Man werde diese Unterstützung fortsetzen, so lange wie das notwendig sei.
Die Zusammenkunft mit Selenskyj in Brüssel beschrieb Scholz als einen außerordentlich emotionalen Moment. "Die persönliche Teilnahme an diesem Europäischen Rat hat alle, die ich dort versammelt gesehen habe, sehr bewegt", sagte der SPD-Politiker in der Nacht nach Ende des Gipfels. Man habe oft mit Selenskyj gesprochen, aber dass er kurz vor dem Jahrestag des Kriegsbeginns selbst in Brüssel erschienen sei, sei etwas Besonderes.
Selenskyj: "Ich muss Druck machen"
Unmittelbar vor seiner Europa-Reise hatte sich Selenskyj über die Zögerlichkeit des Kanzlers beschwert. "Ich muss Druck machen, der Ukraine zu helfen und ihn ständig überzeugen, dass diese Hilfe nicht für uns ist, sondern für die Europäer", sagte er in einem am Donnerstag veröffentlichten Interview des "Spiegel" und der französischen Zeitung "Le Figaro".
Dass die Stimmung deutlich angespannter ist, als es die vielen Treueschwüre glauben lassen sollen, zeigten auch deutliche Worte von Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni an Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron. Meloni kritisierte Macron beim Gipfel auf offener Bühne dafür, dass dieser am Mittwochabend Scholz und Selenskyj zu einem Dreiertreffen eingeladen hatte. Die Politikerin meinte, dass der Termin der gemeinsamen Haltung der EU in der Ukraine-Frage schaden könnte. Die Einladung sei "unangebracht" gewesen.