Kultur Aufwühlender Abend

Tonio Paßlick
Das Minguet-Quartett mit SprecherFrank Arnold auf der Burghof-Bühne Foto: Tonio Paßlick

Kafka und Musik: Das Publikum im Burghof schwieg nach dem Schlussakkord lange und ergriffen.

Dann lösten einzelne Klatscher begeisterten Applaus aus. Das Minguet-Quartett hatte am Mittwoch Werke aus Klassik und Moderne mit Texten aus Kafkas „Die Verwandlung“ verschmelzen lassen. Ein gewagter Dialog, der dank einer präzisen Konzeption durch die Geigerin Annette Reisinger und einem faszinierend lebendigen Vortrag des Sprechers Frank Arnold wirkungsvoll gelang.

Intensives Programm

Die Idee hinter dem intensiven Programm, das auf literarischer und musikalischer Ebene poetische Bilder voller Anmut neben psychologische Abgründe stellte, war der 100. Todestag von Franz Kafka. Dessen lineare Erzählführung, schnörkellose Sprache und detailgetreue und scheinbar realistische Darstellungen bleiben als Parabeln einer rätselhaft entglittenen Welt im kollektiven Gedächtnis einer Gesellschaft im Umbruch.

Die Verwandlung

Das literarische Motiv der Metamorphose, der Verwandlung von scheinbar Vertrautem und Alltäglichen wurde vom renommierten Minguet-Quartett verwoben mit spätromantisch-klassischen und zeitgenössischen Werken wie dem „Choralquartett“ von Jörg Widmann. Es spiegelte letzte Klänge und Phasen der Vergeblichkeit wider, die sich mit dem Reiben der Bogenrückseite auf den Streichinstrumenten, dem Schmirgeln von Haut auf Holz und mit quälenden Momenten der Stille wie ein Menetekel ins Bewusstsein schleichen.

Der Mensch als Fremder

Der Mensch der modernen Gesellschaft wird bei Kafka oft als Fremder dargestellt, dem das familiäre Vertrauen und die gesellschaftlichen Bindungen verloren gegangen sind und der sich stattdessen mit einer kalten, herzlosen, verschlossenen Welt und einer ungewissen Zukunft konfrontiert sieht.

Disparate Gesellschaft

Zeitlos wie Kafkas präzise Psychogramme einer disparaten Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind auch die aufwühlenden Werke seines Zeitgenossen Josef Suk, die im zweiten Teil des Programms mitreißende dynamische Akzente setzten. Die Auszüge des Streichquartetts Nr. 2 op 31 loteten mit der prägnanten Linienführung des Quartetts, der ausgefeilten Balance zwischen Soli und Tutti, den unmerklichen Wechseln der Stimmungslagen und dem gemeinsamen Puls die emotionale Tiefe der Stücke aus. Dramatische Umschwünge, Euphorie, Klage und dazwischen kurze Momente des Humors: Psychogramme musikalisch erlebter Stimmungen, die nicht wie eine musikalische Umrahmung der schlicht und damit ergreifend vorgetragenen Texte wirkten, sondern als Widerhall ein anderes Medium der Hör-Erfahrung schufen.

Schicksalsschläge

Private Schicksalsschläge beeinflussten Suks Komposition genauso wie die damalige Epochenwende, die Suche nach radikal neuen Ausdrucksformen. Ähnlich wie bei Gustav Mahlers nur drei Jahre vorher komponierter Bearbeitung von Friedrichs Rückerts Gedicht „Ich bin der Welt abhanden gekommen“, die Annette Reisinger für Streichquartett arrangiert hatte. Das als Schluss gesetzte Werk kreist um das lyrische „Ich“, um Weltabkehr in stillem Einklang. Die Piano-Stellen wurden so einfühlsam und innig interpretiert, dass einem der Atem stockte. Die Klänge verloren sich im Unbewussten. Ein letzter Höhepunkt des Abends mit Annette Reisinger und Ulrich Isfort an der Violine, Aida-Carmen Soanea mit der Bratsche und Matthias Diener am Cello.

Bewegender Abend

Beethovens Spätwerk „Heiliger Dankgesang aus dem Streichquartett op 132“ rankte sich zuvor als roter Faden durch das Konzert, mit seinen tänzerischen Elementen auch ein Hinweis auf die emotionalen Pole zwischen Schmerz und Dankbarkeit. Und immer wieder Auszüge aus Felix Mendelssohn-Bartholdys Streichquartett op 80, die für die jüdische Seele Kafkas genauso standen wie für die Zerrissenheit einer Welt im Umbruch. Ein bewegender Abend voller berührender Stimmungswechsel.

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