Kultur „Nichts ist ungeheurer als der Mensch“

Michel Schultheiss
Die Basler „Antigone“ hat auch komödiantische Elemente. Foto: Ingo Hoehn

Die Brisanz von Sophokles-Tragödie „Antigone“ im zeitgenössischen Theater ist ungebrochen. Das zeigte die Inszenierung „Antigone im Amazonas“, die in der Kaserne zu sehen war. Am Theater Basel findet der Urkonflikt auf Schweizerdeutsch statt. Es wird sogar komisch.

Massaker in Brasilien und der Ukraine sowie eine Dialekt-Version: Gleich drei Inszenierungen von „Antigone“ werden in der Schweiz zurzeit aufgeführt. „Antigone im Amazonas“ von Milo Rau in der Kaserne Basel war erstmals in der Schweiz zu sehen.

Stoff bleibt aktuell

„Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch.“ Auch nach mehr als 2400 Jahren bleiben Sätze wie dieser aus dem Chor der Sophokles-Tragödie aktuell. König Kreon, der das Bestattungsverbot für Verräter durchsetzen will auf der einen Seite, Antigone, die ihren Bruder würdig beerdigen will auf der anderen: Dieser Konflikt ist in der Inszenierung von Milo Rau in Brasilien angesiedelt.

Kreon ist hier weiblich

Dabei ist Kreon, hier in einer weiblichen Version, kein simpel gestrickter Bösewicht und auch keine kontroverse Figur wie etwa der brasilianische Ex-Präsident Jair Bolsonaro. „Er will alles zum Guten wenden, kommt aus der Sache nicht raus - er ist Opfer des eigenen Systems“, sagt Regisseur Milo Rau gegenüber der Nachrichtenagentur sda. Somit verkörpere Kreon eigentlich uns alle. Ein System also, das sich mit der Umweltzerstörung an die Wand fährt und sich dabei nicht aus den Sachzwängen befreien könne - erst recht nicht mit Biodiesel, Elektroautos und Greenwashing, so Rau.

Die Tragödie spielt sich hier vor dem Hintergrund des Massakers von Eldorado do Carajás in Brasilien anno 1996 ab. Die Militärpolizei tötete damals 19 Menschen der Landlosenbewegung „Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra“ (MST).

Entsprechend waren es die Landlosen, die in Zusammenarbeit mit Milo Rau die klassische Tragödie „Antigone“ wählten. Vieles passte einfach zusammen, wie der Regisseur erklärt. Zum einen sprach Antigone als Widerstandskämpferin den MST an. Das Stück von Sophokles beginnt zudem mit einem Massaker – ebenso die Adaption von Rau.

Eine Leiche, die nicht beerdigt werden darf, ist Auslöser des Konflikts. Auch das wurde übernommen – gerade im Zusammenhang mit dem Verschwindenlassen von Menschen in Lateinamerika und der Missachtung der indigenen Bestattungskultur.

Der Chor in der griechischen Tragödie passte laut Rau ebenso. Schließlich gebe es beim MST eine lange Chortradition.

Theatralisch-politische Performances, in Brasilien „mística“ genannt, sind bei dieser Bewegung als Protestform etabliert. Milo Rau behielt somit einige Elemente bei und schrieb ausgehend davon gemeinsam mit den Landlosen den Text um.

Ein offenes Stück

Im Gegensatz zur Inszenierung von Rau in der Kaserne Basel bleibt die „Antigone“-Übersetzung von Lucien Haug im Theater Basel ziemlich nahe an der Vorlage. Der Urkonflikt zwischen Staatsräson und Menschlichkeit findet hier auf Schweizerdeutsch statt. Allerdings wird die Tragödie, die sich bei Sophokles auf den Konflikt zwischen Antigone und Kreon und damit zwischen Gesetz und Menschlichkeit konzentriert, mit komödiantischen Elementen angereichert.

Antigone auch in Zürich

Losgelöst von der Vorlage ist hingegen „Antigone in Butscha“ im Schauspielhaus Zürich von Pavlo Arie und Stas Zhyrkov. Eine Schweizer Kriegsfotografin wird während ihres Aufenthalts in der Ukraine zur Antigone. Wie bei Rau ist das Motiv des Massakers und der Totenruhe auch hier präsent. Nach dem Blutbad von Butscha hilft die Fotografin einer Witwe, deren Mann zu bestatten.

Verschiedene Ansätze

So verschieden die drei Ansätze sind, so sehr zeigen sie die ungebrochene Sprengkraft des antiken Stoffs. Milo Rau sieht dafür mehrere Gründe: „Es ist ein sehr offenes Stück“, sagt der Regisseur. Es ermögliche daher viele Varianten. Jede Zeit habe ihre schwelenden „Fundamentalkonflikte“, die mit Antigone dargestellt werden. In seiner Inszenierung endet das Stück jedoch nicht im Massensuizid wie in der Vorlage. Es gibt also doch noch Hoffnung auf einen Ausgang aus der Tragödie.

Die nächsten Termine im Schauspielhaus Basel: 29. September, 14., 19., 29. Oktober, 4. und 24. November, 29. Dezember, 19.30 Uhr

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