Kultur Theater von Marthaler

Jürgen Scharf
Szene aus „Tiefer Graben 8“ Foto: Walter Mair

Dem Unbehaustsein des Menschen widmet sich der bekannte Theatermacher Christoph Marthaler zu Musik von Beethoven im Theater Basel mit „Tiefer Graben 8“.

Sage und schreibe 60 Mal ist Beethoven in den 30 Jahren seiner Wiener Zeit umgezogen. Es gibt die unterschiedlichsten Wohnadressen von ihm in und um seine Wahlheimat herum. Da könnte man schon einen ganzen langen Abend über die häuslichen Verhältnisse und ständigen Umzüge dieses ziemlich ruhelosen Menschen inszenieren. Das tut der Schweizer Theatermacher Christoph Marthaler in seinem neuen Musiktheater „Tiefer Graben 8“ mit dem Untertitel „Ein Wohnsitz mit Musik von Ludwig van Beethoven“ aber nicht. Von dem Wiener Klassiker stammt zwar jede Note, aber es ist kein biografischer Abend über Beethoven, er kommt als Person nicht vor.

Worum geht es?

Worum geht es also in diesem neuen Marthaler-Stück auf der Großen Bühne des Theaters Basel, wenn nicht um Beethoven selber, seine gemieteten und bewohnten Wohnungen? Es geht um den unbehausten Menschen, um Sesshaftigkeit, Heimatlosigkeit, Mietrückstände. Der Schwachpunkt ist nur, dass das Ganze keine klassische Handlung hat und nicht linear erzählt wird. Das macht es dem Zuschauer nicht so leicht, hineinzufinden in diese bunte Hausgemeinschaft.

Heimito von Doderer

Für die handlungsarme Szenencollage hat der Zürcher Kultregisseur auf Textvorlagen des österreichischen Romanciers Heimito von Doderer zurückgegriffen, der sich in seinem literarischen Werk stark mit dem Wohnen, der Großstadt auseinandergesetzt hat. Und so unterhalten sich die Hausbewohner im Mietshaus mit Texten von Doderer. Nur ganz selten gibt es mal Ansätze zu Dialogen, es sind vielmehr Monologe, die ein großstädtisches Panorama des Lebens und Wohnens beleuchten.

Spielszene Foto: Walter Mair

Die Inszenierung ist typischer Marthaler. Etwas skurril, mit hintergründigem, bisweilen absurden Humor, aber auch viel Melancholie. Und sie bedient sich Doderers merkwürdigem Humor; dessen Erzählkunst und Sprachkomik sind allgegenwärtig.

Ein gefundenes Fressen für Marthaler, diese Äußerungen über kompliziert Menschliches, festgemacht an einer ganzen Schar von Individuen quer durch alle Altersschichten, Berufe und Stände, die sich entweder im Caféhaus treffen, wo sie wie in einem Wartesaal sitzen, oder im Hausflur. Ständig wird die Frage gestellt: „Wohnen Sie hier?“ - „Ich wohnte hier“. Dieser Schlüsselsatz zieht sich wie ein roter Faden durch diese „Hausbesichtigung“.

Wer glaubt, dass es immer die gleichen Wände sind, hinter denen man lebt, der wird in der Ausstattung von Bühnenbildnerin Anna Viebrock eines Besseren belehrt. Die Wände ihrer variablen Bühne bewegen sich als Schiebewände, gehen wie Schubladen auf und zu, sind mal Wohnung, mal Haus mit Fensterfront, mal Hauseingang mit Treppe oder ganze Straßenzüge: ein „Verschiebebahnhof“ des Wohnens.

Das Interieur wechselt vom Schlafzimmer mit Doppelbett ins Musikzimmer mit drei Klavieren. An einem herrlich verstimmten alten Piano trägt die Marthaler-Vertraute Nikola Weisse als Frau Ida in Kittelschürze schräge Töne bei. Ein geglückter Einfall ist es, einen Ausschnitt aus dem Violinkonzert als Chorstimmen-Satz singen zu lassen.

Singen und schauspielern

Überhaupt sammelt das Stück Pluspunkte im Musikalischen. Mit dem Sinfonieorchester Basel unter Sylvain Cambreling, der seinen Ruf als guter Beethoven-Dirigent bestätigt, und dem von Michael Clark prägnant einstudierten Chor stellt das Theater das „große Besteck“ bereit. Neben Bekanntem wurden viel Unbekanntes und Unvollendetes, Fragmente aus den Skizzenbüchern ausgewählt.

Poetisch-skurril

Und wieder hat der Altmeister des poetisch-skurrilen Musiktheaters in seinem ganz eigenen und eigenwilligen Stil betonter Langsamkeit eine heterogene Mischung aus singenden Schauspielern und schauspielernden Sängern um sich geschart.

Die schwedische Sopranistin Kerstin Avemo, in der vorigen Saison gefeierte Basler „Poppea“, rollt sich für Marthaler mit schön aufblühender Stimme singend in einen Teppich ein; Andrew Murphy verströmt baritonale Wärme. Andere aus der „Marthaler-Familie“ wie Ueli Jäggi und Martin Hug bevölkern als archetypische Figuren diese Hausgesellschaft.

Dass der notorische Umzügler Beethoven ein unruhiger Geist, ein heimatloser Mensch war, wird allenfalls am Rande spürbar. Alle sind Beethoven, die in der Nachdenker-Pose eine Polonaise tanzen zum Rätselkanon „Wir irren allesamt, nur jeder irret anders“. Auf diese letzte musikalische Komposition Beethovens wendet Marthaler sein gern bemühtes Prinzip der Wiederholung an. So wird einem auch das „Egmont“-Triumphfinale mehrfach um die Ohren geknallt.

Etwas mehr erwartet

Mit seinem Psychogramm des bürgerlichen Wohnens hat Christoph Marthaler zwar eine musikliterarische „Gedenktafel“ an das Beethoven-Domizil im Tiefen Graben 8 angebracht, aber in der Summe hätte man von der Traumkonstellation Marthaler-Beethoven doch etwas mehr erwarten dürfen.

Termine: 20., 21., 29. Dezember, 5., 11., 26., 27., 29. Januar

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