Kultur Von Grauen und Hoffnung

Dorothee Philipp
Auf starkes Interesse stieß die Veranstaltung im ehemaligen Tonwerkeareal Kammüller Foto: Dorothee Philipp

„Flucht, Ausgrenzung, Vielfalt und Toleranz“ – um diesen Themenkreis drehte sich eine Veranstaltung in der ehemaligen Kanderner Tonwarenfabrik Kammüller mit Podiumsgespräch und künstlerischen Beiträgen.

Selbst die Veranstalter um Kathryn Babeck und Johannes Beyerle waren vom Zulauf der etwa 100 Interessierten überrascht, fand doch just zu dem Zeitpunkt das letzte EM-Spiel der deutschen Elf statt.

Großes Publikumsinteresse

Der Veranstaltungsraum hatte mit seinen deutlichen Elementen der 2020 stillgelegten Fabrik ein besonderes Flair. Backsteinwände, bröselnder Verputz, in den Boden eingelassene Schienen, alles luftig und offen - so gab die alte Fabrik ein stimmiges Pendant zum ungewöhnlichen Veranstaltungsformat.

„Sie nannten sie Juschka“

Einen konkreten Anknüpfungspunkt lieferte zunächst der Titel der Veranstaltung „Sie nannten sie Juschka“, hinter dem sich die Biografie einer ehemaligen ukrainischen Zwangsarbeiterin verbirgt, die als Haushaltshilfe im Hause Kammüller Wertschätzung und Zuneigung erlebte. Bis in die 1960er Jahre bestand der Kontakt der Familie zu ihrer ehemaligen Angestellten. Ein erster Eindruck, der Mut machte.

Filmbeitrag

Im fast finsteren Nebenraum dann der erste Akt mit einem kurzen Film der Journalistin Birgit-Cathrin Duval, in dem sie Zitate von Zeitzeugen, die unfassbare Gräuel anschauen mussten, mit Bildern von Johannes Beyerle kombinierte, auf denen immer wieder schemenhaft Gesichter und Gestalten aus einem Verhau aus schwarzen Strichen auftauchten. Als Projektionsfläche diente eine marode Wand aus rohem Backstein. Dieser Vortrag endete mit einem berührenden Geigensolo: Die junge Musikerin Carlotta Babeck spielte eine Melodie aus dem Film „Schindlers Liste“, während das Publikum schweigend in den Nebenraum wechselte.

Bilder von Johannes Beyerle setzten im Film Bezugspunkte zu den zitierten Texten. Foto: Dorothee Philipp

Im Veranstaltungsraum selbst begannen die ausgestellten Skulpturen von Beyerle unter diesem Eindruck mit dem Publikum zu kommunizieren. Die Büsten seien aus Lehm und Stroh gefertigt, fragil, verletzlich und gerade deshalb von Leben erfüllt, sagte der Künstler.

Skulpturen von Beyerle

Zum Einstieg in die Podiumsrunde setzte Beyerle einige Schlaglichter in Form von weiteren Zitaten, die unschwer den Zusammenhang mit konkreten NS-Verbrechen in der Region herstellten: Die Ermordung von Zwangsarbeitern in abgelegenen Steinbrüchen, die zynischen Statements der Schergen, das Entsetzen von jungen Leuten, die als Zuschauer hinzugezwungen worden waren – kurze Textpassagen, aus denen ein Grauen sprach, das wie Keulenhiebe wirkte.

Vergleiche mit der Gegenwart klangen an, seien aber nicht zu eng zu ziehen, erläuterte Babeck, die als Moderatorin die Gesprächsrunde leitete. Es gehe vielmehr um zentrale Dinge, die heutige Prozesse verständlicher machten.

Auf dem Podium (v.l.) Jan Stauffer, Christine Ableidinger-Günther, Ingo Benz, Birgit-Cathrin Duval, Johannes Beyerle und Moderatorin Kathryn Babeck Foto: Dorothee Philipp

Auf dem Podium saßen Christine Ableidinger-Günther, die in Steinen in der Betreuung von Geflüchteten aktiv ist, Jan Stauffer aus Müllheim, Vorsitzender des dortigen Fördervereins Erinnerungskultur, Schreinermeister Ingo Benz aus Kandern und Birgit-Cathrin Duval, die zu einem Erschießungskommando von Zwangsarbeitern im Kleinen Wiesental recherchiert. Das Mosaik der Statements war voll unerwarteter Geschichten. Schreckliche und zu Herzen gehende. Berührend war, dass alle Teilnehmer von Flucht und Vertreibung in ihrer Familie berichten konnten. Ereignisse, die ihr Leben bis heute prägten. Es war Stauffer, der darauf hinwies, dass seit etwa zehn Jahren in Deutschland wieder eine Sprache erstarkt, die zuvor unverfängliche Begriffe wie Migration oder Remigration besetze und umdeute im Sinn der damaligen Machthaber der 1930er Jahre. Die Sprache der AfD. „Wir hören diese Sprache jetzt wieder, und das macht Angst“, sagte Stauffer.

Alltag Geflüchteter

Den tristen Alltag der Geflüchteten in der Steinener Unterkunft beschrieb Christine Ableidinger-Günther. Am meisten zehre das Warten an dem Lebensmut vor allem der Männer. „Mädchen haben keine Chance, sie schaffen die Flucht oft nicht“, sagte sie. Ihr Bericht über die mehrjährige, lebensgefährliche Odyssee eines Mannes aus Sierra Leone sei durchaus zu verallgemeinern, stellte sie fest.

Momente der Gastfreundschaft

Ingo Benz berichtete von einer einjährigen Radtour, die ihn bis nach Ägypten geführt hatte, wo er im oberen Niltal von den Ärmsten noch gastlich empfangen wurde, die das Bisschen, was sie hatten, mit ihm teilen wollten. Und auch in Deutschland habe er als Radtourist immer wieder berührende Momente der Zuwendung und Gastfreundschaft erfahren. Trotz Hassgeschrei heute und furchtbarer Vergangenheit: Die Mitmenschlichkeit ist noch da, sie muss nur wieder deutlicher sichtbar werden. Das war einer der Eindrücke nach dieser sehr gut vorbereiteten und professionell umgesetzten Veranstaltung.

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