Barbara Seiler las aus dem 1996 erschienenen Buch ihrer Mutter Lucrezia Seiler „Fast täglich kamen Flüchtlinge. Riehen und Bettingen - zwei Grenzdörfer 1933 bis 1948” und stellte dabei das Werk und die Recherchen ihrer Mutter vor.
Im Rahmen der Ausstellung in der Grenzacher Römervilla „Endstation Grenzzaun? Flucht zwischen Rettung und Tod“ kam auf Einladung des Vereins für Heimatgeschichte Barbara Seiler aus Zürich ins evangelische Gemeindehaus nach Grenzach.
Barbara Seiler las aus dem 1996 erschienenen Buch ihrer Mutter Lucrezia Seiler „Fast täglich kamen Flüchtlinge. Riehen und Bettingen - zwei Grenzdörfer 1933 bis 1948” und stellte dabei das Werk und die Recherchen ihrer Mutter vor.
Die 2013 verstorbene Schweizer Publizistin Lucrezia Seiler hatte sich schon Anfang der 1990er-Jahre mit dem Schicksal von Menschen beschäftigt, die sich ab 1933 dem Nazi-Regime mit einer Flucht in die Schweiz zu entziehen suchten. Seilers zusammen mit dem Historiker Jean-Claude Wacker als Co-Autor verfasstes, zweimal neu aufgelegtes und dabei aktualisiertes Buch verbindet die Befragung von Zeitzeugen und deren Nachkommen mit dem Abgleich schriftlicher Quellen. Die Herangehensweise, Leute aus der Zeit über diese Zeit reden zu lassen, ihnen aufmerksam zuzuhören, um die vielfältigen bewegenden Geschichten dann wertungsfrei zu Papier zu bringen, macht dieses Zeitdokument sehr bewegend.
Seiler beschreibt in ihrem Buch nicht nur, wie Flüchtlinge und Fluchthelfer auf der einen und Polizisten und Grenzwächter auf der anderen Seite, sondern auch die Bevölkerung von Riehen und Bettingen diese Zeit erlebten. Sie stellt die damalige schweizerische Flüchtlingspolitik aus der Sicht der unmittelbar Betroffenen dar und wirft unbequeme Fragen auf.
Barbara Seiler führt das Werk ihrer Mutter mit Lesungen und Führungen als Vermächtnis fort. Sie begann ihren Vortrag in Grenzach mit einem Rückblick auf die Geschichte.
Nach der „Reichskristallnacht“ vom 9./10. November 1938 setzte ein Flüchtlingsstrom aus dem Deutschen Reich ein, der sich weiter verstärkte, als das NS-Regime 1941 damit begann, Juden in Konzentrationslager zu deportieren, und ihnen eine Ausreise verbot. Die Verpflichtung, den „Judenstern“ zu tragen, und der „Judenstempel“ im Pass verunmöglichten eine legale Ausreise. Eine illegale Emigration versuchten die Nazis durch Verstärkung der Grenzkontrollen und Errichten von Sperren zu verunmöglichen.
Am 13. August 1942 verhängte die Schweiz eine Einreisesperre für Ausländer, die allein aus rassischen Gründen verfolgt wurden. Ein Erlass, der für viele Juden einem Todesurteil gleichkam. Der in Bern beschlossene Erlass traf bei den für die Umsetzung verantwortlichen Grenzbeamten nicht unbedingt auf ganzheitliche Zustimmung. Nachbessernde Härteklauseln ermöglichten ihnen später eine flexiblere Handhabung. Wer aber gegen die Bestimmung verstieß, musste mit Repressalien rechnen. Das Gewissen musste zumeist schweigen.
Ebenfalls 1942 wurde vom deutschen Reichsarbeitsdienst zwischen Weil und Grenzach ein 18 Kilometer langer und bis zu drei Meter hoher Stacheldrahtzaun errichtet. Mit einer Ausnahme: Von Riehen zieht sich zwischen den Grenzsteinen 50 und 74 ein fingerförmiger schmaler Landstrich weit über den Maienbühl nach Nordosten ins deutsche Gebiet zwischen Inzlingen und Lörrach – die „Eiserne Hand“.
Sie wurde zur bevorzugten Fluchtroute von Juden, Kriegsgefangenen und anderen Flüchtende. Trotz der vielen Ausschaffungen und Rückweisungen an der Grenze konnten sich etwa 22 500 jüdische Flüchtlinge in die Schweiz retten.
Im Rahmen ihrer Lesung stellte Barbara Seiler danach exemplarische Flüchtlingsgeschichten vor, die sich vorwiegend in der „Eisernen Hand“ zugetragen hatten. Zum Beispiel jene der fünf jungen Männer aus Wien, die von den schweizerischen Grenzbeamten aufgegriffen und an die deutsche Polizei überstellt worden waren und ihre anschließende Deportation nicht überlebten. Oder die Geschichte der jungen Polin, welche in Inzlingen auf dem Hof eines Landwirts zwangsarbeitete, von dort zu flüchten versuchte, aber wieder an ihn ausgeliefert wurde, einem ungewissen Schicksal entgegen. Interessant ist auch die Geschichte einer jungen Frau, der mit viel List und noch mehr Glück eine abenteuerliche Flucht vom Grenzacher Neufeld aus nach Bettingen gelang, und die nochmals viel Glück benötigte, um die Mühlen der schweizerischen Bürokratie zu überstehen, um nicht wieder ausgewiesen zu werden.
Im Buch zu lesen sind außerdem Schilderungen der Tochter eines Grenzbeamten an der Inzlinger Straße, welche die Verhaftungen und Auslieferungen der Flüchtenden hautnah mitbekam. Geradezu eiskalt mutet dabei noch folgende Überlieferung an: Riehener Kinder, die mehrmals einen Mannschaftswagen der Polizei in Richtung Grenze fahren sahen, fragten ihre Mutter, was das für Leute seien, und die Mutter antwortete: „Das sind nur Juden. Die werden jetzt wieder zurückgebracht.“