Lörrach Alle Sinne für Neues

Jürgen Scharf
Mit Augenbinden agierten die Musiker der Basel Sinfonietta im vollen Burghof bei der Uraufführung des Auftragswerks von Mauro Hertig (rechts), der sein Stück im Gespräch mit Dirigent Baldur Brönnimann erklärte. Foto: Jürgen Scharf

Konzert I: Basel Sinfonietta im Burghof

Von Jürgen Scharf

Lörrach. Man war gewarnt: ein Konzertflügel würde aus acht Metern Höhe vom Himmel fallen und zerbersten – zum Glück nur in einer spektakulären Videoprojektion. Die Szene ist nur die Einleitung eines Klavierkonzerts des dänischen Komponisten Simon Steen-Andersen, das die Basel Sinfonietta am Sonntagabend im Burghof aufführte. Es war das erste Gastspiel in Lörrach und das zweite Abokonzert der Saison des für seine innovativen Programme bekannten Orchesters und der Saal war brechend voll.

Das Konzert beginnt mit einer brachialen Klanggeste. Bedrohlich nähert sich der Flügel in Zeitlupentempo auf der großen Videoleinwand dem Boden, zerschellt aber nicht ganz, sondern ist in einem zwar miserablen, aber einigermaßen spielbaren Zustand und klingt wie ein verstimmtes Barpiano. Dieses Konzert für zwei Klaviere ist eigentlich ein Doppelkonzert, bei dem derselbe Spieler live am unversehrten Flügel und virtuell im Video auf dem ramponierten spielt – da kommt eine Art Superinstrument zustande. Am intakten und am kaputten Flügel saß Nicolas Hodges, ein Spezialist für zeitgenössische Klaviermusik, der mit Handschützern agieren und mit Armen und Ellbogen auf die Tasten knallen musste. Das schaffte ungewöhnliche Seh- und Klangeindrücke mit Beethovenschen Fetzen. Einmal tanzt das malträtierte Instrument sogar einen Ragtime.

Effektvoller Sound-Trip

Das Konzert war für den Chefdirigenten Baldur Brönnimann und die Sinfonietta, die sich in den 1980er Jahren aus der anarchischen Szene entwickelt hat und kein Standardorchester ist, ein ebenso radikaler wie effektvoller Sound-Trip. Klanglich gewaltig und eruptiv umgesetzt, ein Stück, das dank der Videoinstallation auf eine zusätzliche Ebene und in andere Ton-Räume entführte. Es war das Experimental- und Katastrophenstück des Abends, der unter dem programmatischen Titel „Aufgang und Absturz“ stand.

Das Stück „Losing the Red Queen’s Race“ von Mauro Hertig, der neben Steen-Andersen an dem Konzertabend anwesend war und in der Einführung mit dem Dirigenten Rede und Antwort stand, ging in Richtung eines Sozialexperiments. Bei der Uraufführung dieses Auftragswerks der Basel Sinfonietta tragen die Tutti-Orchestermusiker schwarze Augenbinden – schon ein radikaler Ausnahmezustand. Die „blinden“ Musiker müssen den nicht maskierten Stimmführern folgen und deren Spiel imitieren: auch ein irrwitziges Stück, das überraschend harmonisch klang.

Die anderen Werke waren um diese zentralen Stücke programmiert und standen in gewissem Gegensatz zu ihnen, zeigten damit die ganze stilistische und ästhetische Breite der Sinfonietta. György Ligetis „San Francisco Polyphony“ aus den 1970er Jahren, ein wichtiges Orchesterwerk der Neuen Musik, minutiös notiert mit ausgeschriebenen Streicherstimmen, das absolute Gegenteil zu den anderen Partituren. Diese Klangflächenkomposition wurde von der 80-köpfigen Sinfonietta sehr atmosphärisch, flirrend und vielstimmig dargeboten. Ebenso die „Stations of the Sun“ des Londoners Julian Anderson, ein klanggewordener Stand der Sonne im Lauf des Tages. Die Sinfonietta überzeugte in diesem klangmalerischen Stück an allen Pulten bei dem prächtig illuminierten Sonnenaufgang mit klanglich gleißender Mittagssonne im Zenit, mit Rasseln und Glocken.

Vom Aufgang bis zum Absturz hat das Konzert Spaß gemacht, war anregend, hat die Sinne für Neues geschärft und die Ohren für Gegenwartsmusik geöffnet. Und dass so viele Zuhörer musikalisches Neuland betreten – schier unglaublich!

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