Lörrach Bitte nicht auf die Behinderung reduzieren

Bernhard Konrad
Dirk Furtwägler und Marita Windisch – sie betont: „Behinderte Menschen sollten grundsätzlich genauso individuell betrachtet werden wie alle anderen auch. Nicht jeder Behinderte ist traurig, nicht jeder Gesunde glücklich!“ Foto: Bernhard Konrad Foto: Bernhard Konrad

Serie „Be-Hindert“ – Teil 17: Dirk Furtwängler und Marita Windisch über Teilhabemöglichkeiten behinderter Menschen im Alltag

Lörrach - Die Impulse des Behindertenbeirats der Stadt Lörrach haben zu etlichen Verbesserungen für behinderte Bürger im öffentlichen Raum geführt. Ebenso wichtig wie solche Rahmenbedingungen sind indes die gegenseitige Wahrnehmung und das Miteinander von behinderten und nicht behinderten Menschen im Alltag.

Von ihren Erfahrungen berichteten Dirk Furtwängler, Vorsitzender des Beirats, und Marita Windisch, Beiratsmitglied und Mutter eines behinderten Kindes, im Gespräch mit Bernhard Konrad.

Herr Furtwängler, Frau Windisch: Wie haben sich in den vergangenen Jahren in Lörrach die Teilhabemöglichkeiten für Menschen mit Behinderung entwickelt?

FURTWÄNGLER: Man muss das Thema auf lange Sicht betrachten, insbesondere, wenn bauliche Aufgaben mit dem Wandel verbunden sind. Seit der Behindertenbeirat vor zwölf Jahren seine Arbeit aufgenommen hat, wurden etliche Verbesserungen vorgenommen: Es wurden behindertengerechte Toiletten geschaffen, die Zugänglichkeit von öffentlichen Gebäuden wie etwa der Stadtbibliothek vereinfacht und für Rollstuhlfahrer zahlreiche Bordsteinkanten abgeschrägt.

Generell kann gesagt werden, dass bei Bauvorhaben und Sanierungen die Belange Behinderter heute mit größerer Selbstverständlichkeit berücksichtigt werden. Schon im Vorfeld werden wir stärker eingebunden.

Zudem fallen viele Kleinigkeiten wie etwa der ein oder andere neu geschaffene Behindertenparkplatz oder die rollstuhlgerechte Platzierung von Kleiderhaken und manches mehr in der Öffentlichkeit gar nicht auf.

Wo sehen Sie noch konkreten Verbesserungsbedarf im öffentlichen Leben?

FURTWÄNGLER: Ein Klassiker ist der ÖPNV. Es gibt nach wie vor keine verlässlichen akustischen Ansagen der Bus-Haltestellen bei der SWEG. Das ist ein echtes Problem – auch für viele ältere Menschen.

WINDISCH: Tatsächlich ist das nicht ausschließlich für Sehbehinderte und manche Senioren problematisch, sondern auch für Leute mit anderen, etwa intellektuellen Einschränkungen. Die Probleme, der Stress und die Herausforderungen, die mit dem Fehlen einer akustischen Ansage verbunden sind, können Nicht-Behinderte kaum ermessen. Die Betroffenen müssen in solchen Situationen enorm viel leisten. Es geht für sie nicht nur um das Thema „Sehen“, sondern um Folgefragen wie: „Wann muss ich zur Tür?“ „Bin ich schnell genug?“

FURTWÄNGLER: Der ÖPNV muss im Jahr 2022 barrierefrei sein. Ich denke, die akustische Ansage gehört dazu.

Was bedeutet die zunehmende Digitalisierung für das Leben behinderter Menschen?

FURTWÄNGLER: So kritisch etwa Sprachassistenten mitunter bewertet werden: Für viele behinderte oder auch ältere Bürger ist das eine tolle Sache. Ich lasse mich so wecken, stelle meinen Timer für den Ofen und höre damit Musik. Zudem kann heute vieles am PC erledigt werden, wofür man früher einen relativ hohen Aufwand betreiben musste. Auch die Möglichkeit, Waren zu bestellen, ist für viele eine Hilfe. Die Barrierefreiheit muss bei der Digitalisierung aber von Anfang an mitgedacht werden.

Inwieweit wünschen Sie sich Fortschritte im allgemeinen gesellschaftlichen Miteinander?

WINDISCH: Wer in seinem Leben nicht mit Behinderungen konfrontiert ist, hat nicht selten eine recht große Distanz zu diesem Thema. Das nehme ich niemandem übel, ich wünsche mir aber mitunter ein ausgeprägteres Bewusstsein für das deutlich andere Leben, das Menschen mit Behinderung führen.

Ferienbetreuung zum Beispiel ist für die meisten Familien ein unkompliziertes Thema: Man meldet sein Kind an und gibt es dann dort ab. Für Eltern eines behinderten, pflegebedürftigen Kindes ist das eine ganz andere Herausforderung.

Wir würden uns wünschen, dass wir als Familie mit einem behinderten Kind mit größerer Selbstverständlichkeit als Teil unserer Gesellschaft wahrgenommen werden. Wir brauchen dieses Verständnis ebenso wie Kooperationsbereitschaft und manchmal eben auch schlicht und ergreifend Hilfe.

FURTWÄNGLER: Ich fände etwas mehr Lockerheit im Umgang mit behinderten Bürgern gut. Viele sehen zuallererst die Kompliziertheit und ein höheres Maß an Verantwortung. Aber: Wir führen zwar nicht das so genannte „normale“ Leben Nicht-Behinderter, sind aber trotzdem ein ganz normaler Teil unserer Gesellschaft.

WINDISCH: Anfangs habe ich bereitwillig akzeptiert, dass ich mit einem körperlich und geistig behinderten Kind quasi um alles bitten musste. „Können wir das...?“, „Dürfen wir das...?“ Heute denke ich: Wir sind als Familie Teil der Gesellschaft – so wie wir sind. Ich wollte nicht immer das Gefühl haben, gewissermaßen um Teilhabe für meinen Sohn betteln zu müssen.

Heute ist Ruben sogar bei den Rangers, eine christliche Pfadfindergruppe, die viel gemeinsam unternimmt. Anfangs hatte ich eine Anmeldung eigentlich ausgeschlossen, aber: Es geht, auch wenn er nur eingeschränkt an den Aktivitäten teilnehmen kann.

Mit der Zeit ist meine Erwartungshaltung selbstbewusster geworden: Die Verantwortung, Lösungen für Teilhabe zu finden, liegt nicht einzig und allein bei mir, sondern auch bei der Gesellschaft, weil behinderte Menschen ein Recht auf Teilhabe haben.

Behinderte brauchen demnach selbst mehr Mut zur Teilhabe?

FURTWÄNGLER: Es ist wichtig, dass Bürger mit Behinderung diesen Mut aufbringen, auch mal zu sagen: Ich gehe jetzt alleine zu dieser oder jener Veranstaltung – und nehme dann die Hilfe des Personals tatsächlich in Anspruch.

Ich war zum Beispiel zwei, drei Mal mit einem blinden Freund im Lörracher Kino: Das hat super funktioniert. Wir wurden zu den Sitzplätzen und später wieder nach draußen begleitet, auch die Hilfsbereitschaft der Gäste im Kino war groß.

Kürzlich hat Tempus fugit ein Theaterstück mit Audiodescription angeboten und ich habe mir überlegt, ob ich alleine hingehen soll. Letztlich hat das alles sehr gut geklappt – man sollte sich auch mit seiner Behinderung mal etwas zutrauen. Ich weiß, das ist nicht immer einfach. Man muss sich auch trauen, gegebenenfalls Leute aktiv anzusprechen und um Hilfe zu bitten.

WINDISCH: Das ist übrigens bei behinderten und nicht behinderten Menschen ähnlich.

Wünschen Sie sich eine differenziertere Perspektive auf behinderte Menschen?

FURTWÄNGLER: Ja, schon. Manche Leute haben die seltsame Vorstellung, dass jemand der blind ist, zwingend besonders gut hört, oder irgendeine andere Eigenschaft in hervorragender Weise beherrscht. Das stimmt natürlich nicht.

WINDISCH: Es ist bei behinderten genau so wie bei nicht behinderten Menschen. Es gibt sozusagen durchschnittlich Behinderte und solche, die Höchstleistungen in anderen Bereichen vollbringen. Behinderte Leute sollten grundsätzlich genauso individuell betrachtet werden wie alle anderen auch.

Das gilt auch für die Einschätzung der Lebensqualität: Es gibt Menschen, die sind behindert, fühlen sich aber nur wenig eingeschränkt und führen ein weitgehend zufriedenes Leben. Andere wiederum sind vermeintlich gesund und führen aus ihrer Sicht ein schmerzhaft eingeschränktes Leben. Nicht jeder Behinderte ist traurig, nicht jeder Gesunde glücklich! Ruben ist zwar chronisch krank aber trotzdem meist ein glücklicher Mensch. Ich kenne gleichzeitig gesunde Leute, die sich oft so schlecht fühlen, dass sie mir aufrichtig leid tun.

Behinderte sind nicht weniger, aber auch nicht mehr Wert als andere. Nur: Sie sollten nicht auf ihre Behinderung reduziert werden. Sie sind schlicht Menschen, die in unserer Gesellschaft ihren Raum zum Leben brauchen.

 In der nächsten Folge lesen Sie am 17. Dezember einen Artikel über die Weilerin Mareike Brischle, die sowohl bei der Lebenshilfe als auch im Theater und im Sport aktiv ist.

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