Zwei Lörracher waren an der Abstimmung über das Grundgesetzes beteiligt: der sozialdemokratische Oberbürgermeister Arend Braye und der liberale Rechtsanwalt Friedrich Vortisch. Denn nachdem der Parlamentarische Rat mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit für das Grundgesetz votiert hatte, mussten nun noch mindestens acht Parlamente der damals bestehenden elf Länder der westlichen Zonen zustimmen. Braye und Vortisch hatten bei der ersten Nachkriegs-Landtagswahl 1947 einen Sitz im badischen Landtag errungen, der im historischen Freiburger Kaufhaus tagte. Beide hatten auch schon der beratenden Landesversammlung angehört, die 1946/47 die badische Verfassung ausgearbeitet hatte, und waren als Gegner des Nazi-Systems verfolgt worden. Man kann sie durchaus als die profiliertesten und kompetentesten Lörracher politischen Köpfe der Nachkriegszeit bezeichnen.
Sie gehörten nun zu den 49 Abgeordneten von CDU, SPD und FDP im badischen Landtag, die am 18. Mai 1949 für die Annahme des Grundgesetzes stimmten. Lediglich zwei KPD-Abgeordnete lehnten wegen der fehlenden Einbeziehung der sowjetischen Zone und mangelnder Arbeiterrechte die Zustimmung ab. Ihr Sprecher, der Pfarrer Erwin Eckert, galt als brillanter Redner und war nach 1945 mehrfach in Lörrach aufgetreten.
Blickt man noch einmal auf Lörrach und den 24. Mai, so kann man sagen, dass die Währungsreform ein Jahr zuvor für die Menschen einschneidender als die Verkündigung des Grundgesetzes war. Die Auswirkungen der Währungsreform spürten sie sofort im täglichen Leben, die Bedeutung des Grundgesetzes blieb dagegen zuerst theoretisch, zumal ja die neue Bundesrepublik, wenn auch abgemildert, immer noch unter Besatzungsrecht stand.
In Lörrach hatte der französische Kommandant Georges maßgeblich bestimmt, wie viele Freiheiten Lörracher und Besucher am Hebeltag hatten. Die finanziellen Lasten für die Besatzung waren in Baden besonders hoch: Von jeder aufgewendeten Mark gingen bis ins Jahr 1950 hinein 66 Pfennige an die Besatzungsmacht. Die Verhältnisse in Lörrach waren zudem immer noch von Kriegsfolgen, Versorgungsengpässen, Wohnungsnot und Flüchtlingsaufnahme gekennzeichnet. So fand am 12. Mai im Gasthaus Lerche eine Versammlung aller Bürgermeister des Kreises mit Landrat Graser statt, „in der zunächst die allgemeinen Richtlinien für die Erhebung über die landwirtschaftlichen Verhältnisse erörtert wurden. Vertreter der Militärregierung nahmen zu der Frage der Fleischversorgung und zur Erleichterung in der Wohnraumlage Stellung. Auch die Eierwirtschaft wurde behandelt.“ Am 28. April konnte verkündet werden, dass „von heute an alle Normalverbraucher über einem Jahr auf die April-Lebensmittelkarte noch 125 Gramm Käse ausgegeben“ werden.
Die Wohnungsnot vergrößert sich
Die Kosten für die notwendige Speisung von rund 2500 Schülern belastete den städtischen Haushalt: „Die Eltern werden daher gebeten, nach Möglichkeit für je eine Speisung zehn Pfennig zu zahlen. Es ist auch geplant, kinderlose Ehepaare um Spenden für dieses Hilfswerk zu bitten.“ Und im Juni wurde gemeldet, dass immer noch 472 Soldaten als vermisst gelten und 421 Personen eine Wohnung suchen. Gleichzeitig traf ein Transport mit zusammen „102 Ostflüchtlingen“ ein, was die Wohnungsnot vergrößerte. Das Bürgermeisteramt veröffentlichte einen Appell: „Den Flüchtlingen muss geholfen werden.“
Für viele Menschen ging es um existenzielle Probleme, in der Abwechslung den schwierigen Alltag erleichtern sollte. Am 15. Mai hatte im bis auf den letzten Platz besetzten Koechlin-Saal der Münchener Komiker Weiß Ferdl in seinem über zweistündigen Programm die Erwartungen weit übertroffen, wie die Zeitung berichtete. Zur 1.Mai-Feier waren dagegen wegen der „nasskalten Witterung“ deutlich weniger Menschen gekommen als in den Jahren zuvor. Der badische Gewerkschaftsbund hatte als Parole „Frieden, Recht auf Arbeit und ausreichende Löhne“ ausgegeben.
Der Verfassungskern: „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“
So eingebettet wurde die Annahme des Grundgesetzes zur Kenntnis genommen. Dabei war und ist es die demokratischste Verfassung, die Deutschland je hatte, mit einem in 19 Artikeln gefassten Grundrechtskatalog. Grundlegend ist der Artikel 20, in dem die Verfassungsprinzipien und der unantastbare Verfassungskern definiert werden: „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Acht Worte, die in ihrer Substanz einen demokratischen Rechtsstaat von autoritären und diktatorischen Systemen unterscheiden. Das Wort „sozial“ verpflichtet zudem jede Regierung zu sozialem Handeln.
Das Grundgesetz manifestiert inhaltlich den Bruch mit der nationalsozialistischen, mörderischen Diktatur in Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dies gilt es auch heute gegen alle Gegner dieser Verfassung zu verteidigen. Wer eine freiheitliche Presse als „Lügenpresse“ bezeichnet und gegen fremde Menschen hetzt, wer Verschwörungstheorien mehr glaubt als Fakten, untergräbt die Grundlagen unserer toleranten und pluralistischen Werteordnung, die standhaft verteidigt werden muss. Das sind die Erfahrungen aus der Zerstörung der Weimarer Demokratie.
Theodor Heuss wird Bundespräsident
Mit dem neuen Grundgesetz konnten nun die ersten Wahlen auf Bundesebene am 14. August 1949 sattfinden. In Lörrach erhielt die SPD 35,1 %, die CDU 27,2 %, die FDP 19,5 % und die KPD 10,2 % der Stimmen, auf sonstige Parteien entfielen 8 %. Nur 72,5 % gingen wählen. Am 12. September wählte die Bundesversammlung aus allen Bundestagsabgeordneten und ebenso vielen Vertretern der Bundesländer im zweiten Wahlgang Theodor Heuss von der FPD zum neuen Bundespräsidenten. Heuss war auch Mitglied des Parlamentarischen Rates gewesen.
Dessen Sohn Ernst Ludwig war seit 1946 Geschäftsführer bei Wybert und wohnte in Tumringen. Er hatte im Krieg Widerstandskreisen angehört. Seine Mutter Elly Heuss-Knapp war eine Cousine der beiden früheren Direktoren Geiger. Deshalb war der neue Bundespräsident öfter in Lörrach zu Gast und pflegte ein gutes Verhältnis zu Oberbürgermeister Braye. Heuss war zudem gern gesehener Gast im Tumringer „Mättle“ und schätzte den Markgräfler Wein. Kontakt hatte er auch mit seinem Parteifreund Friedrich Vortisch von der FDP. Ernst Ludwig Heuss trat ebenfalls der FDP bei und gehörte mehrere Jahre dem Lörracher Stadtrat an.
Wer gegen eine freiheitliche Presse und fremde Menschen hetzt, untergräbt Grundlagen unserer Werteordnung
So schließt sich in Lörrach ein Kreis, in dem drei Persönlichkeiten, die am Zustandekommen des Grundgesetzes beteiligt waren, in Lörrach aufeinandertrafen. Vortisch stammte aus Lörrach, Braye war 1948 aus Haltingen als OB-Kandidat gekommen, Heuss kam nun als Bundespräsident. Auch dieser drei Personen wegen können wir in Lörrach stolz auf 70 Jahre Grundgesetz blicken – aber nur, wenn wir das auch als Verpflichtung nehmen, uns für diese Demokratie einzusetzen: gerade jetzt!