Lörrach Das Gerüst der Republik

Hubert Bernnat

Am 24. Mai 1949 trat das Grundgesetz in Kraft – damit war die Bundesrepublik Deutschland gegründet. In Lörrach standen 1949 Wohnungsnot, Versorgungsengpässe, Flüchtlingsaufnahme im Mittelpunkt.

Lörrach - Es ist der im wahrsten Wortsinn grundlegende Text dieses Landes: Am 24. Mai 1949 trat das Grundgesetz in Kraft – damit war die Bundesrepublik Deutschland gegründet. In einem Gastbeitrag für unsere Zeitung beleuchtet der Historiker Hubert Bernnat die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Lörrach im Frühjahr 1949 – und warum seine Aussagen heute noch genau so wichtig sind, wie vor 70 Jahren.

Dienstag, 24. Mai 1949, die Temperatur stieg an diesem Tag im Raum Lörrach bis maximal 16 Grad, Regen wechselte mit Sonnenschein ab. Es war kein strahlendes Maiwetter, sondern erinnerte eher an April. Für diesen Tag meldet die Badische Zeitung im lokalen Teil keine Besonderheiten. Die Oberbadische Volkszeitung konnte nach dem Krieg erst wieder ab dem 1. Oktober 1949 erscheinen.

30 000 Menschen beim Hebeltag

Die Lörracher standen wohl noch ganz im Banne des Hebeltages vom vergangenen Wochenende, an dem über 30 000 Menschen in der Stadt gewesen sein sollen. Alleine 103 Züge transportierten etwa 12 000 Besucher. Auch wenn der badische Ministerpräsident Leo Wohlleb wegen eines kurzfristigen Besuchs in Paris absagen musste, konnte dies die Festfreude über Umzug, Geselligkeit und Volkstanz nicht mindern. Aus Freiburg war als Ersatz der Ministerialdirektor im Kultusministerium, Paul Fleig, gekommen. Präsent waren zudem der französische Stadtkommandant Georges und Landrat Dr. Heinrich Graser. Die französischen Behörden hatten dafür sogar die Bedingungen für Tagesvisa aus der Schweiz gelockert und 500 Gramm zollfreie Lebensmitteleinfuhr pro Person gestattet.

Und doch ist dieser 24. Mai 1949 ein bedeutender Tag für die noch junge Bundesrepublik, denn seit Mitternacht war das Grundgesetz in Kraft, die bis heute in ihren Grundzügen gültige Verfassung. Tags zuvor hatte sich der Parlamentarische Rat in der Aula der Pädagogischen Akademie in Bonn versammelt: „Mit den Klängen Bachscher Musik begann am Montag um 16 Uhr die feierliche Sitzung des Parlamentarischen Rates, in der das Grundgesetz unterzeichnet wurde.“ Schon am symbolischen 8. Mai, dem Tag der Kapitulation Deutschlands, hatte der Parlamentarische Rat wenige Minuten vor Mitternacht mit 53 zu zwölf Stimmen für die neue Verfassung gestimmt. Gegenstimmen kamen von KPD, Zentrum und Deutscher Partei; zudem hatten sechs der acht CSU-Vertreter mit Nein votiert.

Arend Braye und Friedrich Vortisch gaben ihre Stimme ab

Das damals bestehende Land Baden, in etwa der heutige Regierungsbezirk Freiburg, dessen Regierung in der Breisgaumetropole im Colombi-Schlössle amtierte, hatte zwei Vertreter in den 65-köpfigen Parlamentarischen Rat entsenden können. Dieser setzte sich aus Vertretern der Länder der drei westlichen Besatzungszonen zusammen und ersetzte ein nationales Parlament, das die Besatzungsmächte noch nicht erlaubt hatten. Der seit 1947 eskalierende Ost-West-Konflikt verhinderte ein gesamtdeutsches Vorgehen. Spätestens seit der Währungsreform am 20. Juni 1948 hatte sich dies abgezeichnet.

Die Verhältnisse in Lörrach: von Kriegsfolgen geprägt

Zwei Lörracher waren an der Abstimmung über das Grundgesetzes beteiligt: der sozialdemokratische Oberbürgermeister Arend Braye und der liberale Rechtsanwalt Friedrich Vortisch. Denn nachdem der Parlamentarische Rat mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit für das Grundgesetz votiert hatte, mussten nun noch mindestens acht Parlamente der damals bestehenden elf Länder der westlichen Zonen zustimmen. Braye und Vortisch hatten bei der ersten Nachkriegs-Landtagswahl 1947 einen Sitz im badischen Landtag errungen, der im historischen Freiburger Kaufhaus tagte. Beide hatten auch schon der beratenden Landesversammlung angehört, die 1946/47 die badische Verfassung ausgearbeitet hatte, und waren als Gegner des Nazi-Systems verfolgt worden. Man kann sie durchaus als die profiliertesten und kompetentesten Lörracher politischen Köpfe der Nachkriegszeit bezeichnen.

Sie gehörten nun zu den 49 Abgeordneten von CDU, SPD und FDP im badischen Landtag, die am 18. Mai 1949 für die Annahme des Grundgesetzes stimmten. Lediglich zwei KPD-Abgeordnete lehnten wegen der fehlenden Einbeziehung der sowjetischen Zone und mangelnder Arbeiterrechte die Zustimmung ab. Ihr Sprecher, der Pfarrer Erwin Eckert, galt als brillanter Redner und war nach 1945 mehrfach in Lörrach aufgetreten.

Blickt man noch einmal auf Lörrach und den 24. Mai, so kann man sagen, dass die Währungsreform ein Jahr zuvor für die Menschen einschneidender als die Verkündigung des Grundgesetzes war. Die Auswirkungen der Währungsreform spürten sie sofort im täglichen Leben, die Bedeutung des Grundgesetzes blieb dagegen zuerst theoretisch, zumal ja die neue Bundesrepublik, wenn auch abgemildert, immer noch unter Besatzungsrecht stand.

In Lörrach hatte der französische Kommandant Georges maßgeblich bestimmt, wie viele Freiheiten Lörracher und Besucher am Hebeltag hatten. Die finanziellen Lasten für die Besatzung waren in Baden besonders hoch: Von jeder aufgewendeten Mark gingen bis ins Jahr 1950 hinein 66 Pfennige an die Besatzungsmacht. Die Verhältnisse in Lörrach waren zudem immer noch von Kriegsfolgen, Versorgungsengpässen, Wohnungsnot und Flüchtlingsaufnahme gekennzeichnet. So fand am 12. Mai im Gasthaus Lerche eine Versammlung aller Bürgermeister des Kreises mit Landrat Graser statt, „in der zunächst die allgemeinen Richtlinien für die Erhebung über die landwirtschaftlichen Verhältnisse erörtert wurden. Vertreter der Militärregierung nahmen zu der Frage der Fleischversorgung und zur Erleichterung in der Wohnraumlage Stellung. Auch die Eierwirtschaft wurde behandelt.“ Am 28. April konnte verkündet werden, dass „von heute an alle Normalverbraucher über einem Jahr auf die April-Lebensmittelkarte noch 125 Gramm Käse ausgegeben“ werden.

Die Wohnungsnot vergrößert sich

Die Kosten für die notwendige Speisung von rund 2500 Schülern belastete den städtischen Haushalt: „Die Eltern werden daher gebeten, nach Möglichkeit für je eine Speisung zehn Pfennig zu zahlen. Es ist auch geplant, kinderlose Ehepaare um Spenden für dieses Hilfswerk zu bitten.“ Und im Juni wurde gemeldet, dass immer noch 472 Soldaten als vermisst gelten und 421 Personen eine Wohnung suchen. Gleichzeitig traf ein Transport mit zusammen „102 Ostflüchtlingen“ ein, was die Wohnungsnot vergrößerte. Das Bürgermeisteramt veröffentlichte einen Appell: „Den Flüchtlingen muss geholfen werden.“

Für viele Menschen ging es um existenzielle Probleme, in der Abwechslung den schwierigen Alltag erleichtern sollte. Am 15. Mai hatte im bis auf den letzten Platz besetzten Koechlin-Saal der Münchener Komiker Weiß Ferdl in seinem über zweistündigen Programm die Erwartungen weit übertroffen, wie die Zeitung berichtete. Zur 1.Mai-Feier waren dagegen wegen der „nasskalten Witterung“ deutlich weniger Menschen gekommen als in den Jahren zuvor. Der badische Gewerkschaftsbund hatte als Parole „Frieden, Recht auf Arbeit und ausreichende Löhne“ ausgegeben.

Der Verfassungskern: „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“

So eingebettet wurde die Annahme des Grundgesetzes zur Kenntnis genommen. Dabei war und ist es die demokratischste Verfassung, die Deutschland je hatte, mit einem in 19 Artikeln gefassten Grundrechtskatalog. Grundlegend ist der Artikel 20, in dem die Verfassungsprinzipien und der unantastbare Verfassungskern definiert werden: „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Acht Worte, die in ihrer Substanz einen demokratischen Rechtsstaat von autoritären und diktatorischen Systemen unterscheiden. Das Wort „sozial“ verpflichtet zudem jede Regierung zu sozialem Handeln.

Das Grundgesetz manifestiert inhaltlich den Bruch mit der nationalsozialistischen, mörderischen Diktatur in Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dies gilt es auch heute gegen alle Gegner dieser Verfassung zu verteidigen. Wer eine freiheitliche Presse als „Lügenpresse“ bezeichnet und gegen fremde Menschen hetzt, wer Verschwörungstheorien mehr glaubt als Fakten, untergräbt die Grundlagen unserer toleranten und pluralistischen Werteordnung, die standhaft verteidigt werden muss. Das sind die Erfahrungen aus der Zerstörung der Weimarer Demokratie.

Theodor Heuss wird Bundespräsident

Mit dem neuen Grundgesetz konnten nun die ersten Wahlen auf Bundesebene am 14. August 1949 sattfinden. In Lörrach erhielt die SPD 35,1 %, die CDU 27,2 %, die FDP 19,5 % und die KPD 10,2 % der Stimmen, auf sonstige Parteien entfielen 8 %. Nur 72,5 % gingen wählen. Am 12. September wählte die Bundesversammlung aus allen Bundestagsabgeordneten und ebenso vielen Vertretern der Bundesländer im zweiten Wahlgang Theodor Heuss von der FPD zum neuen Bundespräsidenten. Heuss war auch Mitglied des Parlamentarischen Rates gewesen.

Dessen Sohn Ernst Ludwig war seit 1946 Geschäftsführer bei Wybert und wohnte in Tumringen. Er hatte im Krieg Widerstandskreisen angehört. Seine Mutter Elly Heuss-Knapp war eine Cousine der beiden früheren Direktoren Geiger. Deshalb war der neue Bundespräsident öfter in Lörrach zu Gast und pflegte ein gutes Verhältnis zu Oberbürgermeister Braye. Heuss war zudem gern gesehener Gast im Tumringer „Mättle“ und schätzte den Markgräfler Wein. Kontakt hatte er auch mit seinem Parteifreund Friedrich Vortisch von der FDP. Ernst Ludwig Heuss trat ebenfalls der FDP bei und gehörte mehrere Jahre dem Lörracher Stadtrat an.

Wer gegen eine freiheitliche Presse und fremde Menschen hetzt, untergräbt Grundlagen unserer Werteordnung

So schließt sich in Lörrach ein Kreis, in dem drei Persönlichkeiten, die am Zustandekommen des Grundgesetzes beteiligt waren, in Lörrach aufeinandertrafen. Vortisch stammte aus Lörrach, Braye war 1948 aus Haltingen als OB-Kandidat gekommen, Heuss kam nun als Bundespräsident. Auch dieser drei Personen wegen können wir in Lörrach stolz auf 70 Jahre Grundgesetz blicken – aber nur, wenn wir das auch als Verpflichtung nehmen, uns für diese Demokratie einzusetzen: gerade jetzt!

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