Lörrach. Gudrun Schubert befasst sich als promovierte Islamwissenschaftlerin und Gründerin der Schubert-Durand-Stiftung in vielfältiger Weise mit den Facetten muslimischen Lebens. Mit Bernhard Konrad sprach sie über das komplexe Geflecht muslimischer Kultur, Integrationsfragen, Strömungen des Islam und fundamentalistische Tendenzen dieser Religion in unserer Gesellschaft.
 
Frau Schubert, Sie sind zweifelsohne den Muslimen und der muslimischen Kultur zugewandt. Indes haben Sie kürzlich während der Stiftungsversammlung der Bürgerstiftung auch Besorgnis über die Entwicklung muslimischen Lebens in Lörrach geäußert. Was bereitet ihnen Sorgen?
Ich möchte vorausschicken, dass die vielen  liberalen Muslime  gar nicht erst auffallen. Sie sind integriert und nehmen am gesellschaftlichen Leben teil. In den vergangenen Jahren haben sich aber Gruppenstrukturen verfestigt, die sich immer entschlossener von der Gesellschaft abgrenzen. Diese Abgrenzung mag  ein Stück weit von der   Mehrheitsgesellschaft her kommen, aber die Distanzierung ist auch gewollt.
 
Aus welchen Gründen?
Nach meinem Eindruck überfordert der enorme Wandel viele Menschen, die hierherkommen: zum einen die Sprachprobleme, zum anderen sind die Leute abgeschnitten von ihrer angestammten Kultur. Und: Sie befinden sich plötzlich in einem Minderheitenstatus – das ist  vom traditionellen Islam her gedacht  nicht vorgesehen, höchstens für eine Übergangszeit. Letztlich kommt hinzu, dass sie ihr religiöses Leben nicht ganz so selbstverständlich leben können, wie sie es von ihrer eigenen Gesellschaft gewohnt sind.
 
Womit hängt dieser Rückzug aus dem öffentlichen Raum in eher verschlossene Gemeinschaften noch zusammen? Mit der Glaubensrichtung des Islam? Dem Bildungsgrad? Der Herkunft?
Die Ursachen  sind meist komplex.  Es hat zunächst mit einem Islam zu tun, der sehr streng gelebt wird. Es hat sicher auch  mit Bildung, vor allem mit Sprachkompetenz, und letztlich  mit der sozialen Schicht etwas zu tun. Bindung   wird aber auch auf andere Weise hergestellt. So werden etwa Migranten mit finanziellen Problemen mitunter von  eher fundamentalistisch orientierten  Gemeinschaften unterstützt. So etwas schafft  natürlich Zugehörigkeitsgefühle.
 
Bedeutet das auch, dass sich die Kinder dieser Migranten gewissermaßen für eine einzige Kultur entscheiden müssen?
Es ist eine große Bereicherung, wenn Kinder an zwei Kulturen teilhaben können.  Es wird schwierig, wenn sich Mädchen oder junge Männer für eine einzige Kultur entscheiden müssen, sei es durch Druck von der einen oder der anderen Seite. Aus meiner Erfahrung in der Schubert-Durand-Stiftung kann ich sagen, dass viele Mädchen mit Migrationshintergrund sehr begabt sind, die meisten haben viel Potenzial, und wenn sie gefördert werden, durchlaufen viele die Schule ohne größere Schwierigkeiten. Die Mehrzahl kann einen qualifizierten  Beruf ergreifen, einige studieren auch. Wenn Frauen einen Beruf haben,  erübrigen sich viele  andere Fragen. Dann können sie sich im Übrigen auch entscheiden, ob sie in das Land ihrer Eltern zurück möchten, oder ob sie hierbleiben wollen.
 
Warum hat sich die Integration muslimischer Migranten nicht von Generation zu Generation verbessert?
Die erste Generation kam als Gastarbeiter. Damals wurde die Frage der Integration nicht einmal formuliert. Es wurde ja davon ausgegangen, dass diese Menschen wieder zurückgehen. Bei der zweiten Generation wurden die Dinge schon komplexer, schwieriger. Und eine dritte oder vierte Generation hat sich im Grunde auf breiter Ebene nicht entwickelt, weil viele Migranten ihre Ehepartner etwa in der Türkei gesucht haben, so dass  die Integration  gewissermaßen wieder von vorne begonnen hat und der Gesamtprozess   in sich selbst verschoben wurde.
 
Für Verunsicherung sorgt auch, dass innerhalb islamischer Gruppen und Glaubensströmungen enorme Spannungen und Gewalteskalationen zu beobachten sind, die Außenstehende kaum umfassend begreifen können.
Die radikalen Gruppierungen richten sich nicht in erster Linie  gegen den Westen und unser System, sondern gegen die islamischen Staaten, die nach deren Auffassung nicht den „wahren Islam“ leben. Extremistische Gruppen des Islam haben ja weitaus mehr Muslime getötet als Andersgläubige. Hier liegt ein ganz heterogenes Geflecht vor.
 
Gemeinsam ist fast allen Gruppierungen aber die Betonung der grundsätzlichen Friedlichkeit des Islam. Haben Sie Verständnis dafür, dass eine nennenswerte Anzahl von Bürgern diesen Eindruck nicht entwickeln kann?
Dafür habe ich Verständnis. Ich glaube, die Muslime sind  nicht gut damit beraten,   stets zu behaupten, Islam heiße „Frieden“. Das Wort kommt zwar vom gleichen Wortstamm, aber Islam heißt „Hingebung an den Willen Gottes“.   Es ist ja auch tatsächlich so, dass das Zusammenleben mit Muslimen über Jahrhunderte recht gut funktioniert hat, aber eben vor allem in denjenigen Staaten, in denen der Islam dominierte. Andere Gläubige der so genannten Buchreligionen –  vor allem Juden und Christen –  waren Schutzbefohlene, die Steuern zahlen mussten, aber ihre Religion im Allgemeinen weitgehend störungsfrei leben konnten.
 
Wie sehen Sie die Verführungskraft, die gewalttätige Strömungen des Islam ganz offensichtlich auf etliche junge Männer ausübt?
Diese aggressiven Strömungen haben Erfolg und eine enorme mediale Präsenz, natürlich wirkt das auf einige  junge Männer verführerisch.
Ich möchte aber an dieser  Stelle  nochmals betonen, dass der Islam sehr facettenreich ist. Es gibt viele wunderschöne Seiten der islamischen Kultur und der islamischen Religion.  Vergessen Sie nicht, dass  die ersten weiblichen Regierungschefs nicht  bei uns, sondern  in islamischen Ländern ins  Amt kamen – und das war dort selbstverständlich. In der Türkei gab es so viele Professorinnen, davon könnten wir uns hier eine Scheibe abschneiden. Das wird sich nun wohl etwas verändern.  Tendenzen zu einer so genannten Reislamisierung sind vielerorts festzustellen.
 
Was müsste von muslimischer Seite und sagen wir ganz generell von deutscher Seite getan werden, damit das Zusammenleben besser funktioniert?
In Deutschland und auch in Lörrach wird ja schon recht viel unternommen. Was ich immer noch am wichtigsten finde, ist die Sprachförderung, angefangen im Kindergarten. Aber auch für beide Elternteile  ist Sprachförderung eine zentrale Voraussetzung  für Integration. Bildung ist eines der zentralen Elemente von Integration,   aber auch Sport und andere Formen der Begegnung sind wichtig.
 
Etwas verwirrend ist die Vielzahl islamischer Gruppierungen innerhalb Deutschlands. Es gibt keine Organisation, die für „die Muslime“ steht.
Eine Herausforderung  für Muslime in ganz Europa liegt darin, ihre Religion hier quasi neu zu definieren. Denn: Es gibt keine übergeordnete Instanz wie etwa in der katholischen Kirche.
Das macht es auch schwer, die richtigen Ansprechpartner zu finden: Einer spricht beispielsweise für eine liberale Gruppierung, die DITIB  ist ans türkische Religionsministerium angebunden, andere stehen  für eine eher fundamentalistische Richtung des Islam, dann sind da noch die Aleviten, die sehr offen sind, aber von vielen islamischen Gruppierungen  nicht anerkannt werden. Es ist schwierig.
 
Wenn Sie sich etwas wünschen dürften, um die Integration islamischer Gruppen und das gegenseitige Verständnis füreinander zu verbessern: Was wünschten Sie sich von unserer Gesellschaft und den in ihr lebenden Muslimen?
Ich glaube, dass von unserer Seite schon einiges getan wird, um die Distanz zu vermindern. Ein Problem ist schlicht, dass wir zu wenig voneinander wissen. Ich fände es sehr schön, wenn von Seiten der muslimischen Gemeinschaft eine selbstverständlichere Beziehung zu unserer Gesellschaft entstehen könnte. Es reicht nicht, einmal im Jahr einen Tag der offenen Moschee zu veranstalten. Ich denke durchaus, dass  nicht nur wir, sondern auch muslimische Gemeinschaften sich  noch etwas intensiver mit der Frage beschäftigen sollten, wie sie Barrieren abbauen könnten. Es wäre schön, wenn beide Seiten das Zusammenleben wirklich wollten und zulassen würden.