Damit will ich die aktuelle Gefahr nicht kleinreden. Aber wenn man in einem Land wie Vietnam lebt, das ein viel grobmaschigeres Sicherheitsnetz hat als Deutschland, darf man nicht zu sehr Angst vor Gefahren des Lebens haben. Als Ende März die Fallzahlen in Vietnam stiegen und vereinzelt Touristen das Virus ins Land brachten, hatten viele Menschen Angst vor Kontakten mit Ausländern. Das war eine neue und ungewohnte Erfahrung und verdeutlichte mir, wie belastend Diskriminierung sein kann, auch wenn der Auslöser nicht Verachtung, sondern Angst war. An Orten, an denen man mich nicht kannte, wurde ich teilweise gemieden. Seit das Virus wieder unter Kontrolle ist, erlebe ich die Menschen wieder freundlich und fröhlich wie davor.
Hat die Pandemie beziehungsweise der Lockdown Ihrer Meinung nach die Gesellschaft in Vietnam verändert, oder kehren nun alle wieder zum Alltag vor Corona zurück?
Es ist erstaunlich, was für ein reges Treiben schon wieder in den Geschäften herrscht. Inwieweit sich die Gesellschaft hier durch Lockdown und Social Distancing geändert hat, kann ich aber noch nicht abschätzen. Dafür ist die Zeit seit der Lockerung einfach zu kurz. Ich glaube aber nicht, dass es einen nachhaltigen Effekt geben wird. Einerseits war die Zeit der starken Beschränkungen mit drei Wochen vergleichsweise kurz, andererseits ist es so, dass wir Menschen zum Glück Gefahren auch wieder vergessen, wenn diese gebannt sind. Es wäre doch schrecklich, immer nur in Angst zu leben.
Falls es global zu größeren wirtschaftlichen Verwerfungen kommen sollte, kann ich mir größere Effekte vorstellen, weil ein möglicher Wohlstandsverlust auch Folgen für die Lebensweise hätte. Vietnam integriert sich mit atemberaubender Geschwindigkeit in internationale Märkte – Wohlstand und Fortschritt hängen somit auch immer mehr von anderen Ländern ab. Dennoch gehen die meisten Ökonomen auch für 2020 von einem deutlichen Wachstum aus.
Zur Person: Manuel Wendle hat nach der Schulzeit zunächst eine Banklehre in Basel absolviert und danach bei der Kantonalbank und UBS die Finanzkrise erlebt. Zwischen 2012 und 2019 pendelte er jahresweise und projektbezogen zwischen Vietnam und dem Dreiländereck. Seit gut einem Jahr lebt er nun dauerhaft mit seiner Frau und zwei Kindern in Da Nang. Wendle hat in der Hafenstadt mit mehr als einer Million Einwohner das Beratungsunternehmen „Culture Bridge“ gegründet. Es berät Firmen und Regierungsorganisationen, um internationale Kooperationsprojekte zwischen Vietnam und anderen Ländern voranzubringen.