Das Stimmenfestival wird 25 Jahre alt – eine gute Gelegenheit für einen Rückblick: In unserer Serie widmen wir jedem Stimmen-Jahrgang eine Seite. Die Folgen erscheinen bis zum Ende des diesjährigen Festivals in regelmäßigen Abständen. Heute berichtet Marcel Falk über den Höhepunkt weltmusikalischer Spurensuche im Jahr 2001.

Von Marcel Falk

Lörrach. Ein Paradebeispiel in Sachen positivem Imagetransfer durch Kultur: Helmut Bürgel erkannte das Potenzial eines programmatisch sorgfältig gestalteten Musikfestivals für eine Kleinstadt wie Lörrach und nutzte die kulturpolitische Aufbruchsstimmung – der Burghof eröffnete im Jahr 1998 – der damaligen Zeit.

Mit Rückendeckung der beiden aufeinander folgenden Oberbürgermeister Rainer Offergeld und Gudrun Heute-Bluhm – beide erkannten die Chancen einer stark auf Emotion setzenden kulturellen Ausrichtung – setzte Bürgel auf den damaligen musikalischen Mega-Trend der sogenannten „Weltmusik“ und war damit vielen sogenannten Kulturstädten im deutschsprachigen Raum voraus.

Lörrach aus dem Dornröschenschlaf erweckt

Damit gelang es ihm, Lörrach aus dem Dornröschenschlaf zu erwecken und das Image zu jener Zeit nachhaltig in eine positive Richtung zu korrigieren.
Das im Jahr 2001 vom Stimmen-Festival initiierte und produzierte „Global Vocal Meeting“ stand sinnbildlich für den Höhepunkt weltmusikalischer Spurensuche. Helmut Bürgel lud sechs Sängerinnen und Sänger aus völlig unterschiedlichen Kulturkreisen in den Burghof Lörrach ein, Musiktraditionen aus dem Nahen Osten sollten sich mit jenen aus afrikanischen, europäischen und US-amerikanischen auseinandersetzen mit dem Ziel, während einer Woche ein gemeinsames Konzertprogramm auf die Bühne zu bringen.

Ein hehrer, durch den damaligen Multi-Kulti-Mainstream leicht verklärter Anspruch, dessen Ergebnis aus meiner Erinnerung wenig bereichernd war. Doch die Idee zeigt, wie stark Helmut Bürgel das Festival künstlerisch in gesellschaftlich relevanten Kontexten verorten wollte und dies auch kompromisslos umsetzte.

Starke eigenständige Statements iranischer wie nordafrikanischer klassischer Musik

Das damalige Deutschland war schon damals bunter und vielfältiger geworden, Fragen der kulturellen und gesellschaftlichen Teilhabe wurden zunehmend wichtiger. Lange bevor Begriffe wie „kulturelle Diversität“ oder „Transnationalität“ Einzug in die heutige Kulturarbeit gefunden haben.

Die gesamte Festival-Ausgabe 2001 stand unter diesem Credo: neben dem skizzierten interkulturellen Stelldichein standen starke eigenständige Statements iranischer (Shahram Nazeri) wie nordafrikanischer klassischer Musik (Emil Zrihan).

Doch Stimmen bediente auch das durch Paul Simons Album „Graceland“ in den späten 80ern hervorgerufene Verlangen nach westlich geprägten Sounds mit folkloristischen Zwischentönen: Die Brasilianer Daniela Mercury und Chico Cesar, der Algerier Khaled und Pop-Flamenco-Vertreter Miguel Poveda – sie alle hatten in ihren Ländern beinahe ein Superstar-Image, füllten zum Teil Fußballstadien und standen in Lörrach auf dem Marktplatz! Stolz erfüllte die Stadt, und das zu Recht!

Eine dynamische Entwicklung, die  man Lörrach nicht zugetraut hätte

Lörrach war zu einem (Welt)-Musik-Hotspot gewachsen, und was für die Stadt noch viel wichtiger war: seine Bewohnerinnen und Bewohner, die politischen Entscheidungsträger nahmen in jenen Jahren eine dynamische Entwicklung wahr, die man Lörrach nicht zugetraut hätte und der Stadt gehörigen Auftrieb gab.

Selbstverständnis und Identität in Stadt und Region wuchsen und setzten Energien für lokalpolitische visionäre Ideen und Gedanken, die weit über die Stadtgrenzen hinausgingen, frei.
Heute sind wir leider an dem Punkt, an dem jahrelang an einem mutlosen Auto-Verkehrskonzept (von öffentlichem Nahverkehr ganz zu schweigen) herumgedoktert wird und die Monate dauernde, vermeintlich selbstverständliche Instandsetzung eines Kinderspielplatzes die lokalen Schlagzeilen beherrscht. Bedauernswert, ist von der damals nicht nur, aber auch durch Stimmen freigesetzten Energie nur wenig übrig geblieben.

Der Autor
Marcel Falk  ist seit Juli 2013 Geschäftsführer des Kammerorchesters Basel. Zuvor war er als Verwaltungsdirektor des Sinfonieorchesters Biel und Theaters Biel Solothurn tätig. Der Lörracher ist Musiker und Kulturmanager. Von 1998 bis 2002 war er als Dramaturg und Programmplaner beim Burghof Lörrach und dem Stimmen-Festival  tätig, bevor er  sechs Jahre lang stellvertretender Kulturbeauftragter des Kantons Baselland war.