Von Kristoff Meller
„Wohnen in Lörrach“: In der Baumgartnerstraße teilen sich zehn Personen zwischen drei und 50 ein Haus
Von Kristoff Meller
Lörrach. Wohnen in Lörrach ist teuer – vor allem für Normalverdiener. Um Defizite auszuloten und Antworten zu finden, wurde die Projektkommission „Wohnraumentwicklung 2020 Plus“ gegründet. Flankierend dazu macht unsere Redaktion „Wohnen in Lörrach“ zum diesjährigen Schwerpunktthema. Heute steht das Projekt „Gemeinsam Wohnen“ in der Baumgartnerstraße im Mittelpunkt. Hier bilden zehn Menschen zwischen drei und 50 Jahren eine nicht ganz alltägliche Gemeinschaft.
Auf den ersten Blick wirkt das etwa um die Jahrhundertwende gebaute Eckhaus eher unscheinbar. Fahrräder vor dem Eingang, ein Auto in der Einfahrt – ein ganz normales Wohnhaus am Rande des Campus Rosenfels könnte man meinen. Erst der Blick auf den Briefkasten mit einem großen Aufkleber und vielen kleinen Namensschriftzügen verrät – hier wohnt keine gewöhnliche Familie. „Ich habe in einer Landkommune und danach zehn Jahre allein gelebt. Irgendwann fand ich das einfach blöd“, erinnert sich Wolfgang Bund. Vor etwa 13 Jahren kam ihm die Idee für das Projekt „Gemeinsam Wohnen“. Der heute 50-jährige Software-Entwickler machte sich auf die Suche nach einer geeigneten Immobilie für seine „Wahlgemeinschaft“ und wurde in der Baumgartnerstraße fündig. Im September 2001 zog er zunächst mit zwei weiteren Mietern ein. „Nach und nach“ habe sich das große Eckhaus mit drei Wohnetagen und neun Zimmern (siehe Kurzinfo) anschließend gefüllt.
„Ich hatte ursprünglich an beständige Bewohner gedacht, das Angebot spricht aber vor allem Menschen in einer Übergangsphase an“, hat Wolfgang Bund festgestellt. Bis auf den Projektgründer lebte niemand länger als sechs Jahre im Haus. „Meine Lebenspläne reichen nicht weiter als ein Jahr“, sagt Physiotherapiestudentin Judith Haungs, die 2012 einzog und zuvor in einer Studenten-WG gewohnt hat. Im Durchschnitt blieben die bislang rund 40 Bewohner zwei Jahre lang. Dabei handelte es sich fast ausschließlich um Alleinstehende und zugezogene Berufstätige. „Hier hat man als Fremder in einer neuen Stadt gleich Anschluss, das macht es attraktiv“, erklärt Bund.
Frei gewordene Zimmer werden schnell wieder vermietet. „Pro Ausschreibung haben wir locker 100 Bewerber“, sagt der Eigentümer. Doch am Ende bleiben oftmals nur eine Handvoll ernsthafte Interessenten übrig. „Für viele klingt das Projekt im ersten Moment spannend, aber wenn das Gespräch auf Themen wie gemeinsamer Kühlschrank oder gemeinsames Bad kommt, scheitert es bei den meisten“, erklärt Daniel Ryba. Der 49-Jährige ist selbst erst vor wenigen Monaten eingezogen.
Ähnlich ist es auch im Freundeskreis, wie die 40-jährige Kerstin Buchner berichtet: „Die Reaktionen sind zunächst sehr positiv, aber die meisten können es sich nicht vorstellen, mitten im Leben in eine WG zu ziehen.“ Im Bewusstsein der Gesellschaft sei das Wort „WG“ oftmals mit Studenten oder Wohnprojekten im Alter verknüpft, eine Form wie bei „Gemeinsam Wohnen“ können sich die meisten hingegen nicht vorstellen.
„Ganz viele haben Angst vor fehlender Privatsphäre“, sagt Bunds Lebensgefährtin Anne-Christin Liebscher. Dabei hat jeder seinen eigenen Rückzugsraum im Haus. „Man hat Nähe wenn man sie sucht und Distanz wenn man sie will“, bestätigt Buchner .
Ein wichtiges Anliegen ist es, das Potential der gemeinsamen Küche zu nutzen. „Wer kocht schon gerne allein"“ sagt der Begründer des Projektes. Es werden hauptsächlich frische Produkte vom Wochenmarkt oder aus der Gemüsekiste bevorzugt. Jeder kocht anders, sodass immer wieder neue Gerichte auf den Tisch kommen. Grundsätzlich beteiligt sich jeder mehr oder weniger am Kochen, Putzen und Aufräumen. Was auch „ohne akribisch ausgefeilten Plan“ bislang funktioniere, wie alle versichern. Dass einzelne dabei manchmal vielleicht mehr profitieren obwohl sie weniger einbringen als andere, müsse man „aushalten“ können. Ansonsten herrschen „ganz normale Mietverhältnisse“, so Bund.
Natürlich könne so eine Gemeinschaft nur gelingen, wenn Geben und Nehmen groß geschrieben werden und alle Beteiligten eine gewisse Portion Toleranz und Akzeptanz sowie ihre Fähigkeiten einbringen. Der eine engagiere sich mehr im Haushalt, der andere dafür stärker bei Renovierungsarbeiten. In der Vergangenheit gab es unterschiedlichste gemeinsame Aktivitäten wie Feste, Brennholz sägen, Gärtnern, Kirschen ernten und einkochen, Musizieren, Ski fahren, Segeln, Klettern und andere Sportarten. Der Grundgedanke dabei ist das Schaffen von Freiräumen, die von den Bewohnern mit ihren Fähigkeiten und ihrer Kreativität ausgestaltet werden können.
Um sich gegenseitig kennenzulernen wird beim Einzug eines neuen Bewohners ein dreimonatiges „Wohnen auf Probe“ vereinbart. So haben Interessenten die Möglichkeit, die Wohnform auszuprobieren. Danach wird gemeinsam entschieden, ob ein unbefristetes Wohnverhältnis entsteht.
Im Herbst wird das Projekt jedoch seinen bis dato größten Umbruch erleben. Gleich vier Personen ziehen aus, darunter der Begründer. Gemeinsam mit Liebscher und den beiden dreijährigen Zwillingen Samson und Jonathan möchte Bund etwas Neues auf dem Land starten. Die bisherige Wohnform in der Baumgartnerstraße wird jedoch beibehalten.
„Wenn sie gehen, verlieren wir sehr viel. Die Kinder sind eine große Bereicherung für die Gemeinschaft“, findet Ryba. Auch die Familie schätzt die jetzige Situation: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen“, erinnert Liebscher an ein afrikanisches Sprichwort. Dennoch haben sie sich nach reiflicher Überlegung zu diesem Schritt entschieden. Sie suchen in Mecklenburg-Vorpommern eine neue Herausforderung. Für die vier beginnt damit ein neuer Lebensabschnitt, und in der Baumgartnerstraße werden wieder drei Zimmer frei. Das Projekt kann eine bereichernde Wohn- und Lebensperspektive bieten – man muss sich nur trauen.