Eine Ihrer Thesen ist – vereinfacht gesagt – eine gewisse Unverfügbarkeit zu praktizieren. Sie plädieren für mehr Resonanz, indem wir uns auf Fremdes, auch Irritierendes einlassen. Wie soll und kann das im Alltag gerade auch im beruflichen Umfeld funktionieren?
Ja, diese andere Existenzform hat als Kernidee die Vorstellung, dass wir nicht auf Beherrschung und Unterwerfung der Natur und der Welt, sondern auf Resonanz mit ihr zielen sollten. Ich unterscheide zwei Grundformen, mit der Welt in Beziehung zu treten: Die eine Form ist die der Verfügbarmachung. Ich versuche das, was mir begegnet, zu beherrschen, mir anzueignen, gefügig zu machen, nutzbar zu machen.
Die andere Weise ist die, mit dem Fremden, Begegnenden in Resonanz zu treten: Auf es zu hören, sich berühren zu lassen und dann darauf zu antworten und zwar so, dass wir uns in dem Prozess verwandeln. Das ist ein riskantes Unterfangen, man weiß nicht genau, auf was man sich da einlässt und was dabei herauskommt.
In unserer modernen Welt ist das gefährlich und schwierig, weil wir gezwungen sind, klare Ergebnisse zu festgelegten Zeiten zu liefern und uns stetig zu verbessern. Aber bei fast allem, was wir tun, gibt es auch Spielräume, die eine Resonanzorientierung erlauben: Wir können mit anderen ins Gespräch kommen, statt sie abzufertigen, wir können im Urlaub offen bleiben für das, was uns begegnet, ohne einen festen Plan für jeden Tag zu haben, wir können auf unseren Körper hören, ohne ihn sofort mit Tabletten verfügbar zu machen.
Implizieren Ihre Thesen nicht auch ein Stück weit einen gewissen Kontrollverlust?
Doch, das tun sie, darauf will ich gerade hinaus. Aber der entscheidende Punkt ist: Unser Versuch, alles unter Kontrolle zu haben, scheitert sowieso, er bewirkt sein Gegenteil: Die Welt entgleitet uns, individuell und kollektiv. Nehmen Sie die Atomkraft: Der Versuch, das innere der Materie unter Kontrolle zu bringen, hat mit der nuklearen Kettenreaktion ein Monster der Unverfügbarkeit hervorgebracht. Der Brexit und das neuartige Coronavirus sind weitere Formen solcher Monster. Dagegen will ich ein anderes Weltverhältnis setzen, dass uns nicht ohnmächtig werden lässt – aber auch nicht allmächtig, sondern teilmächtig.
Sie sind gefragter Buchautor, Professor, Referent: Wie schaffen Sie es, Ihre eigenen Thesen umzusetzen?
Zunächst einmal bin ich ein Wissenschaftler und Soziologe und kein Ratgeber oder Guru: Ich behaupte gar nicht, dass ich die Probleme der Welt gelöst hätte, und ich will auf keinen Fall den Menschen sagen, was sie zu tun haben. Vielmehr will ich mit ihnen gemeinsam darüber nachdenken, was schief läuft und wie es anders sein könnte, und ja, auch, was wir selbst tun können.
Und tatsächlich versuche ich in meiner Arbeit und meinem Leben die kleinen Resonanzinseln des Alltags auszubauen – zum Beispiel, indem ich mich auf Diskussionen und den Erfahrungsaustausch mit einem Publikum einlasse, das ich noch gar nicht kenne, auf das ich mich aber sehr freue!
Prof. Dr. Harmut Rosa, geboren 1965 in Lörrach, ist Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt. Für seine Werke erhielt er zahlreiche Preise, unter anderem den Tractatus-Essaypreis 2016 und den Erich-Fromm- Preis 2018. Zuletzt erschienen u. a. „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“ (2016) und „Unverfügbarkeit“