Lörrach Kammerspiel von beklemmender Intensität

Dorothee Philipp
 Foto: Dorothee Philipp

„Wintergäste“: Gogols Novelle „Tagebuch eines Wahnsinnigen“ mit Peter Schröder.

Lörrach-Brombach - Das macht einen schon beim Zuschauen ganz fertig, wie sich Titularrat Proprischtschin an seiner Umgebung und an sich selbst abarbeitet. Wie er zum Schluss als König Ferdinand der Achte von Spanien seine Würde inszeniert, während die Zuschauer schon lange wissen, dass er nichts weiter ist als ein verwirrter armer Tropf, der im Irrenhaus gelandet ist.

Ein Kammerspiel von beklemmender Intensität mit asketischer Kargheit

Peter Schröder, der dem Publikum im Dreiland aus seiner Zeit als Ensemblemitglied des Basler Theaters bekannt ist, und der seit 20111 im Ensemble des Schauspiels Frankfurt spielt, bringt im Werkraum Schöpflin für die Reihe „Wintergäste“ Gogols Novelle „Tagebuch eines Wahnsinnigen“ als Kammerspiel von beklemmender Intensität auf die Bühne. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Glas Wasser, angeleuchtet mit einem Spot von der Decke, ansonsten ringsum dichte Schwärze.

In dieser asketischen Kargheit wuchern die Phantasien des beamteten Federkielspitzers, der in die Tochter seines Direktors verliebt ist und sich mit den Standesunterschieden der russischen Gesellschaft abquält wie mit einem kranken Zahn („Ich habe bloß keine Mittel“). Da gibt es etliche, die unter ihm stehen, die schaut er nicht einmal an, auf manche könnte er spucken, der Beamte im Vorzimmer ist für ihn eine „Schildkröte in einem Sack“, im „Lakaienvolk“ befinden sich nur ungebildete Bestien und seine Dienerin: ein „dummes Finnenweib“.

Das Tagebuch beginnt mit Einträgen im Oktober, fein säuberlich hintereinander gelistet. Dass mit dem Titularrat etwas nicht stimmt, merkt man schon vom ersten Moment an, seine Stimme zittert, seine Gesten sind fahrig, manchmal fängt er an zu stottern, später im Drama beginnt seine Nase zu laufen. Im Tagebuch analysiert er bald den Briefwechsel zwischen dem Hündchen seiner Angebeteten und dem einer Freundin – der Vierbeiner berichtet aus dem engsten Privatleben der Familie seines Vorgesetzten. Der Blick ins Boudoir der Direktorstochter – ein Blick ins Paradies!

Proprischtschin mischt seine eigenen Kommentare ein von gallig-böse bis schwärmerisch-verzückt. „Nichts, gar nichts, Schweigen“, ist der Refrain, der als Zäsur die Tagebucheinträge voneinander trennt. Und doch gibt es Momente, die so skurril sind, dass man sich die Heiterkeit nicht verkneifen kann.

Die Hundebriefe sind von einer umwerfenden Komik, etwa wenn der kleine Racker sich als echter Gourmet über Brotkügelchen ekelt, die man ihm knetet und hinwirft. Da hat er lieber Soße mit Rebhuhn oder einen gebratenen Hühnerflügel.

Wie ein Vorgriff auf die Bilder Salvador Dalís

Als Karikatur schildert Proprischtschin den Kammerjunker, der dem Fräulein den Hof macht. Und die Idee, dass sich die Erde auf den Mond setzt und dieses zarte Gebilde, auf dem nur Nasen wohnen, dabei zerdrücken könnte, schein wie ein Vorgriff auf die Bilder Salvador Dalís. Der Countdown der Einträge entgleist ab dem 43. April 2000, als „von einem Winde vom kaspischen Meer hergebracht“ die Botschaft kommt, dass Spanien einen neuen König habe. „Der König bin ich“.

Schröder-Proprischtschins Sprache findet zu monarchischer Würde. Die Stockschläge, die er nach einer für ihn überraschend kurzen Fahrt in sein spanisches Königreich erhält, sind für ihn ritterlicher Brauch, die rasierten Köpfe um ihn herum die der Granden und Soldaten, die er fortan regiert.

Zusammen mit der unglaublichen und volatilen Präsenz Schröders, die keinen Sekundenbruchteil erlahmt, obwohl er die ganze Zeit an seinem Tischchen sitzt, bewundert man die schriftstellerische Kraft des Nikolai Wassiljewitsch Gogol, die sich auch in der Übersetzung machtvoll entfaltet.

Die Abgründe und Verletzungen der vereinsamten menschlichen Seele, hier gewandet in das Petersburger Kolorit des frühen 19. Jahrhunderts, sind bis in unsere Zeit gleich geblieben. Auch wenn diese statt von „Wahnsinn“ von „psychischer Erkrankung“ spricht.

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